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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Kirchturmglocke. »Es ist schön hier«, sagte Charlie. »Aber ich sehe keine Taxis.« Sie kramte einen Plan hervor, den sie sich von dem Ort besorgt hatte. »Ich glaube, es ist nicht weit«, sagte sie. »Das Haus liegt am Waldrand. Wir gehen einfach zu Fuß.«
    Sie liefen schnell. Jonah hatte sich bei Charlie untergehakt. Wenn er mit ihr unterwegs war, nahm er seinen Stock gar nicht erst mit.
    Bereits nach ein paar Minuten erreichten sie einen kleinen Waldweg. »Da lang«, sagte Charlie. Sie dirigierte ihn mitsanftem Druck vorbei an Steinen, Wurzeln und anderen Unebenheiten. Mit ihr an der Seite könnte ich sogar rennen, dachte Jonah. Dann musste er an Jette denken. Wie er das erste Mal seine Hand steif auf ihre Schulter gelegt hatte und sich von ihr führen ließ. Das war, als sie ihn unter dem Baum angesprochen hatte. Und später dann, wie sie ihn im Affenhaus immer an die Hand genommen hatte. Bei Jette musste man selbst auf Unebenheiten achten, doch er wäre jetzt gern mit ihr an der Hand über eine Wurzel gestolpert. »Verdammt!«, würde sie zerknirscht sagen. »Ich pass jetzt wirklich auf.«
    »Hier stinkt’s«, platzte Charlie in seine Gedanken hinein.
    »Nach Vögeln«, antwortete Jonah zufrieden. »Sind wir da?«
    »Ich glaube schon. Da vorn ist ein Haus. Und daneben stehen Käfige.« Charlie schüttelte sich. »In dem Käfig dahinten sitzt ein ziemlich dunkler Geselle. Mit krummem Schnabel. Aber sonst sehe ich niemanden.«
    »Hallo?«, rief ein junger Mann aus Richtung des Hauses. »Kann ich euch helfen?«
    »Wir möchten Herrn Küster sprechen!«, rief Charlie.
    »Geht zu den Volieren durch. Dort ist er.«
    »Der meint die Käfige«, stellte Charlie fest. »Er ist also wirklich da.«
    Sie gingen noch ein Stück weiter und hörten bald ein beruhigendes »Ja-mein-Freund-kri-kri-kri-ein-bisschen-fliegen?kri-kri-kri …« Eine Männerstimme mittleren Alters. Dann kräftiges Flügelschlagen.
    »Hallo?«, rief Charlie.
    Ein ungehaltenes »Augenblick!« war die Antwort. Dann freundlicher: »Ich komm gleich raus.« Kurz darauf fiel eine Tür ins Schloss, und Schritte näherten sich.
    »Da ist der Mann«, flüsterte Charlie. »Er hat einen Vogel bei sich. Sitzt auf seiner Hand. Das Vieh hat irgendwas auf den Augen. Man sieht nur den Schnabel. Sieht ziemlich gruselig aus.«
    »Was kann ich für euch tun?«, fragte der Mann, der auf einmal vor ihnen stand.
    »Sind Sie Herr Küster?«, fragte Jonah.
    »So ist es«, antwortete der Mann. Er klang arglos. Freundlich.
    »Wir möchten mit Ihnen reden«, sagte Jonah. Für einen Augenblick fühlte er sich bereits am Ziel angelangt.
    »Kein Problem«, antwortete der Mann. »Wenn ich den Falken dabei fliegen lassen kann? Später wird’s zu heiß.«
    Jonah zuckte mit den Schultern. Ihm fiel auf, dass der Mann ihm direkt geantwortet hatte. Er hatte in seine Richtung gesprochen. Die meisten Leute wandten sich an Charlie, Klara oder Dukie. Aber vielleicht hatte der Mann auch noch gar nicht bemerkt, dass er blind war.
    »Geht schon mal zur Wiese durch, dort entlang«, sagte der Mann. »Muss mir nur noch einen neuen Handschuh holen. Den alten hat der Kamerad hier zerbissen.« Er ging mit schnellen Schritten davon. Der Mann hatte etwas Lässiges an sich. Und wirkte gleichzeitig bestimmt.
    Ein paar Minuten später stand er wieder neben ihnen. Jonah hatte das Gesicht des Mannes vor Augen. Ein heller Typ mit blonden dichten Haaren, nachlässig rasiert, ohne Brille. So würde er sich an ihn erinnern.
    Am Anfang hatte es ihn noch verunsichert und gestört, dass er nie wusste, ob die Bilder, die sich in seinem Kopf bildeten, mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Aber irgendwann hatte er sich gedacht, scheiß drauf. Norbert Königssohn war für ihn eben blond. Sollten die anderen ihn doch braun, rot oder mit grün gepunkteten Haaren sehen.Ihm war es egal. »Worum geht’s denn?«, fragte der Mann jetzt neugierig.
    »Wir wollen wissen, wo Jette ist«, begann Charlie ohne Umschweife.
    »Wer ist denn Jette?«, fragte der Mann.
    »Sie kennen sie«, sagte Charlie. »Außerdem haben Sie ja sicher alles in der Zeitung gelesen.«
    »Bedaure«, sagte der Mann. »Ich lese kaum noch Zeitungen.« Er lachte etwas.
    »Vielleicht hilft Ihnen der Name Lina Sandwey auf die Sprünge«, sagte Jonah barsch.
    Irgendetwas fiel zu Boden. Der Vogel kreischte laut auf. Der Mann bückte sich. Er brauchte ewig, um sich wieder aufzurichten. »Entschuldigung«, murmelte er. »Die Tasche mit dem

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