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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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schwieg wieder. Er setzte zum Reden an, aber die Silben erstarben ihm auf den Lippen. »Ich sollte den Vogel rufen«, sagte er schließlich. »Es ist ein Trainingsflug. Er muss lernen zu gehorchen.« Er stieß ein lautes »Hoy, hoy, hoy!« aus.
    »Erzählen Sie bitte weiter«, bat Charlie.
    »Ich hatte lange gearbeitet«, fuhr der Mann stockend fort. »Mir eine Pizza bestellt, aber vergessen, sie zu essen. Als ich in der Nacht endlich nach Hause gehen wollte, warf ich wie immer noch einen Blick in das Buch mit den Entlassungen vom nächsten Tag. Und da stand der Name des Babys. Es war ein Schock für mich. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass sie noch länger auf der Station bleiben würde. Doch jetzt entschied ich, mir auf der Stelle Blut auf Vorrat zu holen. Natürlich hatte ich schon etwas Blut zur Seite geschafft, aber es war möglich, dass ich das Baby nie wiedersehen würde. Sicher war sicher.«
    Das Glöckchen näherte sich. Mit lautem Flügelschlagen landete der Vogel auf seinem Herrn. »Gut gemacht!«, lobte der Mann müde. Jonah hörte, wie die Schnallen einer Tasche geöffnet wurden. Fleischgeruch stieg in seine Nase. Der Vogel gab ein aufgeregtes Krik-krik-krik-krik-krik von sich und flatterte wild mit den Flügeln. Dann war es still. Schließlich sagte der Mann: »Flieg noch mal, Junge!« Und der Falke erhob sich erneut in die Lüfte.
    »Sie lag zusammen mit anderen Babys in einem Zimmer«, redete der Mann unaufgefordert weiter. »Als Erstes habe ich ein paar Haare von ihrem Kopf abgeschnitten. Das warschon mal sichere DNA. Aber für meine Untersuchungen war Blut praktischer. Die Ärzte hatten ihr sowieso eine Kanüle in den Handrücken gelegt, weil sie ihr öfter Blut abnahmen. Ich musste nicht neu stechen. Am Anfang klappte alles. Ich füllte eine Spritze mit Blut, dann eine zweite. Sie wachte nicht auf. Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass ich noch mehr brauchte. Bei der dritten Spritze machte sie plötzlich die Augen auf, sah mich an – und hörte auf zu atmen.« Der Mann rang um Fassung. »Ich habe sie geschüttelt und ihren Namen gerufen. Aber sie hat nicht mehr geatmet. Ihre Lippen haben sich verfärbt, und sie lief schon blau an. Ich hatte zu viel Blut abgenommen. Der Kreislauf war kollabiert. Und dann bin ich aus dem Zimmer gerannt. Ich bin einfach weggelaufen. Fünfzehn Jahre habe ich mich gefragt, warum ich keine Hilfe geholt habe.«
    »Sie ist damals nicht gestorben«, sagte Charlie. »Ein Arzt hat sie wiederbelebt. Er hatte sich eigentlich nur in der Tür geirrt, aber gleich gesehen, was los war. Ihr ist nichts passiert. Sie kennt die Geschichte von ihren Eltern. Der Arzt dachte, er hätte sie vor dem plötzlichen Kindstod gerettet.«
    »Sie ist nicht gestorben?«, fragte der Mann ungläubig.
    »Nein.«
    »Das kann nicht sein. Sie war tot.«
    »War sie nicht«, sagte Charlie.
    »Doch.«
    »Nein. Haben Sie denn nie nachgefragt?«
    »Ich war mir so sicher«, sagte der Mann langsam. »Ich bin aus dem Krankenhaus gerannt. Durch die Straßen geirrt. Irgendwann bin ich nach Hause gegangen, habe meinen Pass geholt und mich in ein Flugzeug gesetzt. Ich hatte einen Menschen getötet. Ein Baby. Und das nur aus beruflichem Ehrgeiz. Ich konnte es nicht fassen. Bis zu diesem Momentwar alles in meinem Leben rundgelaufen. Ich hatte immer Erfolg gehabt. Und jetzt war ich auf einmal auf der Flucht. Weniger vor der Polizei als vor mir selbst. Ich stand vor dem Nichts. Wisst ihr, ich habe meinen Beruf sehr geliebt. In der darauffolgenden Zeit litt ich sehr, und es dauerte Jahre, bis es mir wieder besser ging. Ich habe dann versucht, etwas Neues zu machen, etwas ganz anderes, und das hier ist ein Ergebnis davon.« Er machte eine ausholende Geste mit dem Arm, mit der er wohl das Heim für die Jugendlichen und die Vogelzucht meinte. Dann sprach er weiter: »Ich versuche jetzt, Menschen zu retten. Und das Baby ist wirklich nicht gestorben?«
    »Aber Sie müssen doch den Brief geschrieben haben«, unterbrach ihn Jonah. Er zog das anonyme Schreiben an Wim Tanner aus seiner Jeansjacke. Der Mann nahm den Brief, las ihn und gab ihn ihm zurück.
    »Nein«, sagte er, »der ist nicht von mir.«
    »Aber Sie heißen doch ›Königssohn‹. Und der Absender des Briefes ist ›Ein reisender Königssohn‹. Und Sie waren doch auch immer unterwegs.«
    »Aber ich habe den Brief nicht geschrieben.«
    »Das kann doch kein Zufall sein«, sagte Jonah. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie Jette nie wieder gesehen

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