Haut, so weiß wie Schnee
Fleisch.«
»Und?«, fragte Jonah drängend.
»Woher wisst ihr …?«
»Wo ist sie?«, fiel Jonah ihm ins Wort.
Der Mann schwieg. Er atmete schwer. Dann stieß er hervor: »Ich muss den Vogel fliegen lassen.« Er hantierte an dem Tier herum. »So, jetzt kannst du wieder sehen«, murmelte er. »Noch die Riemen an den Füßen … Und los geht’s!« Mit lautem Flügelschlagen erhob sich der Vogel in die Luft.
»Herr Königssohn, wo ist sie?«, wiederholte Charlie.
»Wer seid ihr?«
»Wo ist sie?«
»Sie … ist … tot«, stotterte der Mann. »Wisst ihr das denn nicht?«
»Das kann nicht sein«, sagte Jonah tonlos. Er spürte, dass Charlie an seinem Arm zitterte. Tot, dachte er. Und noch während das Wort durch seinen Kopf fuhr, stellte er das Atmen ein. Es war keine bewusste Entscheidung. Er hörte einfach auf zu atmen. Er wusste nicht, ob es stimmte, wasder Mann gesagt hatte. Aber solange er nicht atmete, konnte Jette nicht wirklich tot sein. Aus irgendeinem Grund hatte er den Eindruck, dass ohne seinen nächsten Atemzug etwas so Ungeheuerliches nicht vollendet werden konnte.
»Was ist passiert?«, flüsterte Charlie.
Der Mann sagte nichts.
»Was ist passiert?«, wiederholte sie.
»Wer seid ihr? Warum wollt ihr das wissen?«, stieß der Mann gepresst hervor.
»Was ist passiert?« Charlie brüllte jetzt.
Aber der Mann redete immer noch nicht.
»Bitte«, sagte Charlie etwas beherrschter. »Erzählen Sie es uns. Wir sind ihre Freunde.«
»Ihre Freunde?«, fragte der Mann. »Aber sie ist doch tot. Wie …« Dann schluchzte er auf.
»Bitte«, wiederholte Charlie.
»Es war meine Schuld«, sagte der Mann gepresst. »Ich habe es noch nie jemandem erzählt.«
»Dann tun Sie es jetzt«, verlangte Charlie.
»Ich habe damals auf der Krankenstation gearbeitet, auf der sie geboren wurde«, begann er stockend. »Ich hatte dort ein Labor und machte klinische Studien. Ich war kein Arzt, sondern Biologe. Humangenetik. Ich arbeitete an meiner Doktorarbeit. Sie war das schönste Baby, das wir je gesehen hatten. Mit einer ganz außergewöhnlichen Haut. Straff, glänzend, makellos, keine einzige Unebenheit. Nichts Verschrumpeltes. Ich habe sie direkt nach der Geburt zu Gesicht bekommen, und sie sah nicht aus, als hätte sie neun Monate in Fruchtwasser gelegen, sondern als wäre sie direkt vom Himmel gefallen.«
Jonah wunderte sich, wie ruhig sein Körper war, seit er aufgehört hatte zu atmen. Er erinnerte sich an eine Geschichte, in der ein Mann sich nicht nach seiner Liebstenumdrehen darf, weil diese sonst zu Stein wird. Der Mann drehte sich um. Er selbst würde diesen Fehler nicht machen. Er hielt weiter die Luft an.
»Ich war ehrgeizig«, erzählte der Mann neben ihm weiter. »Ich hatte bereits als Student bei der Entschlüsselung des NF1-Gens mitgewirkt. Das Gen wird euch nichts sagen. Es hat etwas mit der Haut zu tun. Ich wollte mich um ein Stipendium bei einem amerikanischen Spitzenforscher bewerben. Die Studien, die ich in der Klinik machte, waren meine Visitenkarte. Ich sah in dem Baby die Chance meines Lebens. Wenn es eine genetische Veranlagung für seine perfekte Haut hatte und ich sie finden würde! Ich wäre auf der Stelle berühmt gewesen.«
Der Mann sprach nicht weiter. Seine Gedanken schienen ihn wegzutragen. Charlie räusperte sich. Noch einmal, diesmal lauter.
»Die Ärzte auf der Station«, nahm der Mann den Faden wieder auf, »nahmen dem Baby viel Blut ab, um es zu untersuchen. Die Mutter war drogenabhängig gewesen, und man musste mehr Vorsorgeuntersuchungen machen als üblich. Doch von dem Blut blieb immer etwas übrig, und ich holte es mir, obwohl das nicht erlaubt war. Aber niemand fragte danach. Das Kind hatte tatsächlich auffallend viele Mutationen auf dem NF1-Gen. Ich hoffte, die eine zu finden. Oder das Set an Mutationen. Ich wurde immer besessener von der Idee. Ich arbeitete rund um die Uhr. Ich wandte neue statistische Methoden an, las in kürzester Zeit Hunderte von Fachaufsätzen, kaufte für viel Geld neue Labortechnik. Und fand nichts.« Der Mann schwieg wieder.
»Jonah, alles in Ordnung?«, fragte Charlie auf einmal.
Er nickte.
»Du musst atmen«, sagte sie.
Er nickte wieder, aber es ging nicht.
»Sie ist nicht tot«, sagte Charlie. »Er erzählt von früher.«
Jonah nickte. Sie ist nicht tot, wiederholte er in Gedanken Charlies Worte. Und dann endlich kam sein Atem wieder. Er keuchte und holte tief Luft.
»Und dann?«, fragte er. »Wie ging es dann weiter?«
Der Mann
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