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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Er ist dort Leiter in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Er schreibt, sie soll nach einem Norbert Küster fragen.« Klara blätterte weiter. Dann ihre fassungslose Stimme: »Guckt mal, was er hier schreibt: Er hat Falken!«

Eine lange Flucht geht zu Ende
    Jonah hatte sich zurückgelehnt und lauschte dem monotonen Rattern des Zuges. Er war müde. Kein Wunder. Er hatte in der letzten Nacht nicht geschlafen. Es war einfach zu aufregend gewesen in der Wohnung der alten Dame, und er hatte sich danach stundenlang unruhig im Bett gewälzt und kein Auge zubekommen.
    Charlie stand schon seit Längerem am Fenster und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Hin und wieder sagte sie Sätze wie: »Da ist ein Feld mit ganz vielen Tulpen.« Oder: »Diese Schwarzwaldhäuser sehen lustig aus.« Aber auch ihre Stimme klang etwas schwach.
    Der Waggon wurde mit Wucht zur Seite gedrückt, und es ratterte laut. Jonah schrak hoch. Ein anderer Zug kam ihnen entgegen.
    Es war das erste Mal, dass er Eisenbahn fuhr, seitdem er nicht mehr sehen konnte. Es war gewöhnungsbedürftig. Aber auch mit dem Autofahren hatte er erst wieder klarkommen müssen. Man wusste nicht so recht, was mit einem geschah und wie man all diese Geräusche einordnen sollte. Waren sie jetzt in einen Tunnel gefahren? Ein leichter Druck hatte sich auf seine Ohren gelegt, und die Luft, die von draußen hereinkam, war merklich kühler geworden.
    »Meinst du, dass Norbert Königssohn wirklich weiß, wo Jette ist?«, fragte Charlie.
    Jonah nickte.
    »Und warum befreit er sie dann nicht?«
    »Das werde ich ihn auch gleich fragen«, sagte Jonah grimmig.
    Sie hatten ihr Kommen natürlich nicht angekündigt. Norbert Königssohn sollte sich weiter unentdeckt wähnen, damit sie den Überraschungseffekt auf ihrer Seite haben würden. Er sollte keine Zeit haben, sich Ausflüchte zu überlegen. Wenn sie ihm erst mal gegenüberstanden, würde Charlie kein unruhiger Blick, keine Geste des Mannes entgehen. Und Jonah wollte genau auf die Stimme des Mannes achten. Sie würden ihm sein Geheimnis entreißen.
    »Ich hoffe nur, dass er auch da ist«, sagte Jonah. Er musste laut gegen den Fahrtwind ansprechen. »Dann wird er uns schon sagen, was er weiß.« Seine Stimme hatte einen ungewöhnlich aggressiven Unterton.
    »Wir werden ihn auf jeden Fall tüchtig in die Mangel nehmen«, sagte Charlie besänftigend und schloss das Fenster. Sie setzte sich neben ihn.
    »Du brauchst nicht mit mir zu reden wie mit einem kranken Dackel.«
    »Besser wie mit einem kranken Kampfhund? Was willst du tun, wenn er nichts sagt? Ihn anfallen?«
    »Wir sperren ihn ein. Lassen ihn verhungern. Verdursten. Bis er redet.«
    »Du meinst es ernst.«
    »Weißt du, was sie jetzt vielleicht gerade mit Jette machen?«, entgegnete Jonah.
    Er hatte Angst um Jette. Eine beißende, kalte Angst, die immer da war, in jeder Sekunde, ihn manchmal aber regelrecht ansprang, wie ein Raubtier sein Opfer. In diesen Momenten hörte er auf zu atmen und versuchte, mit seinen Händen seinen Nacken und seinen Bauch vor dem Angriff zu schützen.
    Er nannte sie auch nicht mehr Jella, sondern nur noch Jette. Der Name, den er ihr einst gegeben hatte, machte ihm jetzt Angst. Er erschien ihm bei Weitem nicht so bodenständigund robust wie Jette. Eine Jella konnte der Wind wegwehen. Der Name war nicht viel mehr als ein Hauch. Wie hatte er ihr diesen Namen geben können?
    Der Zug fuhr langsamer. »Komm«, sagte Charlie. »Wir müssen aussteigen.«
    Jonah zog sich seine Jeansjacke über und griff nach seinem Rucksack. Er ließ sich die Zeit ansagen. Es war halb elf. An der Tür hatte sich eine Schlange gebildet. »Wanderer«, erklärte Charlie.
    Jetzt hielt der Zug mit kreischenden Bremsen. Die Türen wurden geöffnet, und Jonah trat hinaus ins Freie. Die Luft roch frisch und würzig. Spazierstöcke klapperten auf dem Bahnsteig. Leute unterhielten sich, lachten. Eine Gruppe suchte nach einem fehlenden Teilnehmer. Es herrschte ein freundliches buntes Treiben. Wenn ich all das doch nur sehen könnte, dachte Jonah kurz. Dann war der Gedanke wieder verflogen. Das Gute an neuen Problemen ist, dachte er, dass man die alten vergisst. Er hatte schon lange nicht mehr darüber nachgedacht, dass er blind war. Er hatte zu viel zu tun. Er musste Jette finden.
    Charlie griff nach seiner Hand, und sie gingen auf den Vorplatz. In der Sonne war es warm. Die Blätter der Bäume rauschten im Wind. Ein Auto fuhr vorbei. In der Ferne läutete eine

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