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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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aus seiner Hosentasche. Die Zigarette brannte auf dem Boden weiter.
    Jette blickte durch die geöffnete Luke nach oben. Über dem Erdloch lag ein Raum; es war künstliches Licht, das in das Loch hereinfiel. Aber mehr konnte sie nicht erkennen. Wim Tanner schob ihren Ärmel hoch und stach mit der Spritze zu – einfach irgendwohin, so erschien es ihr. Es hatte etwas Schlampiges an sich, wie er die helle Flüssigkeit in ihren Körper drückte. Gleich würde er wieder gehen. Sie musste es jetzt versuchen.
    »Herr Tanner«, sagte sie flehend, »bitte lassen Sie mich frei.«
    »Du kannst also auch ›bitte‹ sagen«, zischte er.
    »Ich habe Ihnen doch nichts getan.«
    Er lachte grimmig und zeigte auf seine roten Augen. Dann auf seinen Hals.
    »Ach ja, und die Ameisen.« Seine Stimme hatte etwas Anzügliches. »Etwas leichtsinnig, nicht wahr?«
    »Wenn Ihrer Tochter so etwas passieren würde, würden Sie das wollen?« Jette wollte nicht so schnell aufgeben, doch Wim Tanner ignorierte die Frage. Seelenruhig packte er die Spritze ein. Jette drückte ihren Finger auf den Einstich. Die Zigarette brannte immer noch. Grauer Qualm stieg nach oben. Wim Tanner wandte sich von ihr ab und begann, die Vorräte zu prüfen. »Braucht das Goldeselchen noch etwas Futter?«, fragte er und lachte über seinen eigenen Witz.
    »Ich werde Anspruch auf die Kinder erheben«, sagte Jette plötzlich.
    »Du weißt Bescheid?« Er klang überrascht.
    »Ihre Kunden werden die Kinder nicht behalten können.«
    »Du wirst gar keinen Anspruch erheben«, blaffte Wim Tanner.
    »Dann eben meine Eltern.«
    »Weißt du, wie viele Kinder jedes Jahr geboren werden?« Er trat näher an sie heran. »Viele Millionen! Also viel Spaß beim Suchen!« Er lachte wieder, als hätte er gerade einen guten Witz gemacht, dann drehte er sich um und kletterte an der Strickleiter aus dem Verlies. »Morgen geht’s los!«, rief er ihr von oben zu. »Stell dich drauf ein!« Damit warf er die Luke zu.
    Jette stand auf, drückte die Zigarettenkippe aus und nahm die Decke von dem Nest mit den Mäusen.

Endlich eine Spur
    Charlie lag auf dem Sofa ihrer Oma in der Küche. Hier konnte sie am besten schlafen. Nachts gehörte die Küche ihr. Sie musste sie mit niemandem teilen. Ansonsten gab es in der Wohnung nur noch das Schlafzimmer ihrer Großmutter und das Wohnzimmer, in dem sich ihre Mutter und ihre kleine Schwester eingerichtet hatten. Die Küche war nicht schlecht. Die Dinge, die einen hier umgaben, hatten einen besonderen Zauber. Da war die Keksdose oben auf dem Schrank, die die Besuche bei ihrer Großmutter seit ihrer frühesten Kindheit begleitete. Oder die gusseisernen Kellen in den Schubladen, die so unregelmäßig gefertigt waren, als hätte der Schmied von nebenan ihre Herstellung übernommen. Und natürlich die Uhren an der Wand, die sich mit ihrem lauten Ticken dafür zu rechtfertigen schienen, dass sie schon seit Langem nur noch ihrem eigenen Rhythmus folgten.
    Das Beste an der Küche aber war das Sofa. Es war groß und weich und hatte ein verschwenderisches Blumenmuster. Zur Lehne hin war es etwas abschüssig, sodass man über kurz oder lang in einer Kuhle zu liegen kam. Wenn man nicht schlafen konnte, ließ man am besten die Hand in den Spalt zwischen Lehne und Sitzpolster gleiten. In der Ritze befanden sich allerlei Dinge, die im Laufe der Zeit dorthin gerutscht waren, ohne dass es jemand bemerkt hatte.
    Jetzt beförderte Charlie ein zusammengeknülltes Stück Zeitungspapier an die Oberfläche und strich es glatt. Im Halbdunkel des Zimmers war schwer etwas zu erkennen. Aber ihre Großmutter hatte ein paar Passagen im Text angestrichen. Es ging um Zwangsräumungen. Na super, dachteCharlie. Die wohlige Atmosphäre war dahin. Gereizt drehte sie die Zeitungsseite um. Todesanzeigen. Auch nicht besser.
    Sie stand auf und knipste das Licht an. Vielleicht sollte sie ein paar Kekse essen? Sie holte die Dose vom Schrank und stellte sie auf den Tisch. Sie musste an die Villa von Dukie denken. Wie groß das Haus war. Und wie klein diese Wohnung hier. In der Keksdose waren frische Makronen, die ihre Großmutter vor ein paar Tagen gebacken hatte. Sie gab sich viel Mühe, damit sie sich bei ihr wohlfühlten. Während Charlie ihren Gedanken nachhing, arbeitete irgendetwas in ihr. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber was?
    Sie legte sich wieder hin und stöberte noch ein bisschen in der Sofaspalte. Sie beförderte ein unbeschädigtes Portionsdöschen mit Kaffeesahne zutage,

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