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Haut

Haut

Titel: Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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mich. Ich muss den Zeitpunkt und den Augenblick finden.« Er blickte auf. »Sie wissen nicht, was aus der Leiche Ihres Bruders geworden ist.«
    »Nein.«
    »Sie haben überall gesucht. Alles abgesucht, was Ihnen einfiel.«
    »Ja. Es gibt nichts mehr. Einmal dachte ich, ich sei nah dran. Weit weg von hier. Im Osten, nicht hier im Westen.«
    »Und?«
    »Ich hab mich geirrt.«
    Der Walking Man nickte nachdenklich. Er betrachtete Caffery noch eine Weile, nahm dann seine Gabel, machte es sich bequem und fing an zu essen. Dabei wanderte sein Blick zum Horizont. Caffery beobachtete ihn, und ihm fiel auf, dass er seinen Bart beim Essen sauber hielt und sich die Finger an einem Tuch abwischte. Der Walking Man starrte von Kopf bis Fuß vor Dreck, und trotzdem schien er auf eine seltsam gewissenhafte Art auf sich zu achten.
    »Sie haben weniger Glück als ich«, sagte der Walking Man nach langem Schweigen. »Mir bleibt keine andere Wahl, und das ist ein Glück. Aber Sie? Sie müssen sich immer noch entscheiden. Und das ist schwerer. Vor allem jetzt. Wenn diese Entscheidung neue Komplikationen bringt.«
    Caffery runzelte die Stirn. »Woher wissen...«
    »Es ist unwichtig, woher ich das weiß. Wichtig ist die Entscheidung, die Sie treffen, und warum Sie sie treffen. Schauen Sie mich an.« Er stellte den Teller zur Seite, drehte sich zu Caffery um und breitete die Arme aus. Seine schmutzige Steppjacke öffnete sich, und man sah seinen Oberkörper in der fleckigen Thermounterwäsche. »Sie, mein lieber Polizist, lernen gerade, mich nach dem zu beurteilen, was ich bin, nicht nach dem, wofür Sie mich halten.«
    »Und?«
    »Und?« Er schloss die Jacke und nahm seinen Teller wieder auf. »Und deshalb müssen Sie darauf achten, die gleiche Urteilskraft auch hier einzusetzen, Inspector Caffery. Achten Sie darauf, dass Sie erst dann urteilen, wenn Sie das ganze Bild kennen. Es wird einige Zeit dauern, aber wenn Sie alles im Blick haben, sieht es vielleicht ganz anders aus.«
    Das ganze Bild: Wieder traten ihm Momentaufnahmen vor Augen. Fleas Gesicht an dem Tag, als sie mit dem neuen Wagen im Steinbruch gewesen war, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn. Ihr Blick in dieser Nacht, als sie Mistys Leiche zu sich ins Wasser gezogen hatte. Als würde sie um Verzeihung bitten. Als hätte sie nicht gewollt, dass es so kam.
    »Und noch etwas.«
    Caffery hob den Kopf. »Was?«
    »Etwas, woran ich Sie eigentlich nicht erinnern müsste.« Der Walking Man senkte den Kopf und strich sich über den Schnurrbart; seine Hand verbarg sein ironisches Lächeln. »Bevor Sie über einen anderen Menschen urteilen, sollten Sie immer einen Blick zurückwerfen. Vielleicht in Ihre eigene Vergangenheit?«
    Caffery fixierte den Walking Man. Er wäre nicht im Geringsten überrascht, wenn der auch darüber Bescheid wüsste - über das Geheimnis, das er seit fast zehn Jahren mit sich herumtrug. Dass es in London einen Mord gegeben hatte. Er hatte dort einen Mann umgebracht, heimlich und mit bloßen Händen.
    Er beugte sich vor und zog das Handy zu sich heran. Legte die Finger darauf. Er war müde, so müde. Vielleicht stimmte es, vielleicht waren Entscheidungen wirklich die Wurzel allen menschlichen Glücks - und aller menschlichen Trauer.
    »Es ist Zeit«, sagte der Walking Man. »Das wissen Sie.«
    Caffery atmete tief durch und nahm das Telefon in die Hand. Er stand auf und starrte das leere Display an. »Beobachten Sie mich nicht. Okay?«
    Der Walking Man lächelte ruhig und gelassen. Er senkte höflich den Kopf und streckte die Hand aus: Caffery sollte ein wenig beiseitegehen.
    Caffery wandte den Bäumen den Rücken zu und ging davon. Oben am Rand des Abhangs blieb er stehen. Der Nebel hatte sich verzogen, wie der Walking Man es vorausgesagt hatte, und vor ihm öffnete sich das Land mit seinen bewaldeten Hügeln und eiszeitlichen Moränen. Weit entfernt von Bath erkannte er das noch im Dunst liegende Tal des Avon. Das Weiße Pferd bei Westbury war ein verschwommener Fleck in der Landschaft. Weiter vorn - auf Charmy Down auf der anderen Seite des Solsbury Hill - stieg eine zweite Rauchsäule in die Luft. Wie die über dem Feuer des Walking Man, aber dunkler. Schwarz und dicht verschmutzte sie den Himmel.
    Er schaltete das Handy ein, wählte Powers' Nummer und schaute zu dem schwarzen Rauch hinüber, während er auf die Verbindung wartete.
    »Boss. Hab ich Sie geweckt?«
    »Ja.« Powers sprach leise. Er hustete zweimal. »Jack, was sollte denn das nachts? Sie haben mich

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