Havelgeister (German Edition)
ein, das er vor ein paar Jahren in Sachen Schicksal mit Bremer geführt hatte. Auch der Rechtsmediziner teilte die These von Claasens Ehefrau. Manzetti dagegen wollte von all dem übersinnlichen Zeug nichts hören. Er war Realist.
»Wenn Sie meinen«, sagte er deshalb. »Aber das wird uns bei den Ermittlungen nicht viel helfen. Außerdem stellt sich für mich die Frage, in welchem Deliktsfeld wir überhaupt agieren sollen. Sachbeschädigung, wie bei den echten Graffitis, kommt ja wohl nicht in Frage, oder?«
»Dann machen Sie Beleidigung daraus«, ratterte Claasen im Geiste das Strafgesetzbuch durch. »Ich unterschreibe auch den dazugehörigen Strafantrag.«
Manzetti spitzte die Lippen. Würde er sich beleidigt fühlen, wenn sein Gesicht in einem der bekanntesten Bilder der Welt zu sehen wäre?
»Auch das könnte schwierig werden«, mahnte er. »Ich werde mit dem zuständigen Staatsanwalt reden und hören, was der uns empfiehlt«, sagte Manzetti und hoffte, damit etwas Zeit zu gewinnen. »Bis dahin schicke ich die Graffitisachbearbeiter raus. Sie sollen sich mal ein bisschen in der Szene umhören. Bei der Kunstfertigkeit des Werkes dürften nicht allzu viele Sprayer in Frage kommen. Vielleicht brüsten sie sich ja auch schon im Internet mit ihrem Werk.«
6
Kevin setzte die Füße vor seinem Bett auf das klebrige Linoleum. Er hatte nur unruhig gedöst. Die Gedanken an Nepo waren langsam doch zur Sorge geworden, die schließlich alles überdeckte. Ob die Bullen ihn erwischt hatten?
Kevin bückte sich und zog den Rucksack unter seinem Bett hervor. In der kleinen Seitentasche steckte sein Handy. Er wählte, doch Nepo ging nicht ran. Nach dem Piepton sprach er auf die Box. »Hi. Hier ist Kevin. Wenn du deine Nachrichten abhörst, ruf mal zurück. Du warst nicht am vereinbarten Ort.« Dann legte er auf.
Du warst nicht am vereinbarten Ort – so ein Quatsch. Das wusste Nepomuk doch selbst, ging es Kevin durch den Kopf und er war sich sofort sicher, dass es dafür wieder eine Kopfnuss geben würde. Egal, bedeutete die Nuss doch auch, dass Nepo wieder da wäre.
Er streifte die Jeans über, zog sich das schwarze T-Shirt an und schnappte den Rucksack. Vielleicht war Nepo ja inzwischen bei Lucas eingetroffen. Das musste er überprüfen. Mit der Straßenbahn fuhr er ans andere Ende von Hohenstücken, schwarz natürlich. Mit Fahrkarte ist uncool, und wenn du uncool bist, dann bist du der Loser.
Lucas war zu Hause und sein Vater Gott sei Dank in der Kneipe. Auf den hatte Kevin überhaupt keinen Bock. Auf das ganze Gequatsche von den guten alten Zeiten, in denen die Jugend noch nicht abgegammelt hatte. Außerdem gab es bloß Zoff, wenn der Alte da war. Entweder fing sich Lucas eine ein oder aber dessen Mutter.
Kevin konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als ihm Lucas’ Mutter die Tür geöffnet hatte – mit einer riesigen Sonnenbrille, so eine, wie diese italienische Schauspielerin sie immer trug.
»Hi, Luc.« Die Jungen klatschten sich ab, wie es in der Crew üblich war.
»Hi.«
»Hast du etwas von Nepo gehört?« Kevin ließ sich auf das ungemachte Bett fallen und zog eine Bierflasche aus dem Kasten, der direkt am Kopfende stand.
»Nö. Du?«
»Auch nicht. Ihm wird doch nichts passiert sein?« Kevin knackte die Flasche mit dem Feuerzeug und nahm einen ordentlichen Hieb.
»Glaub ich nicht«, sagte Luc. »Es waren keine Bullen da, und der Wachmann kam ja erst, als wir schon an der Brücke waren.«
Lucas hatte Recht. Sie hatten bereits zwanzig Minuten an der Brücke über den Domstreng gewartet, als der Scheinwerfer des Wachschutzautos die Vorderfront der Kirche erhellte. Nur eine Minute später war das Arschloch auch schon wieder verschwunden. Diese Wachheinis machten es einem irgendwie auch zu leicht.
»Wo kann er denn sonst sein?«, fragte Kevin und sah zu Lucas, der den Kopf ganz weit zur Seite drehen musste, um mit dem verbliebenen rechten Auge aus dem Fenster schauen zu können.
»Er hat uns beschissen, das Schwein«, behauptete Lucas plötzlich und begann an seinem T-Shirtärmel zu zupfen.
Im Gegensatz zu Kevin hatte er diesem Böttgerspross noch nie über den Weg getraut, und schon gar nicht, wenn es um Geld ging. Von wegen, wir sind keine Ganoven und lassen den Domschatz liegen. Wie sein Alter, so beschiss auch Nepomuk seine Leute. Jetzt hatten sie den Salat, vielleicht auch die Bullen auf dem Hals, und Böttger hatte wahrscheinlich die Domklunker und würde die Kohle dafür selbst einstreichen.
Weitere Kostenlose Bücher