Havelsymphonie (German Edition)
Manzetti sah den Intendanten direkt an und wartete. Er ließ den Satz absichtlich unkommentiert, um zu beobachten, wie der Mann reagierte, wenn er schließlich die ganze und ungeheuerliche Tragweite begreifen würde. Und der Intendant reagierte so, wie Manzetti es von jemandem erhofft hatte, der ihm von der ersten Minute an sympathisch war.
„Carolin … Sie meinen die … Sie sagen, … dass unsere …“
Manzetti zog ein Polaroidbild aus der Tasche und gab es dem Intendanten, dessen Miene sich augenblicklich noch mehr verfinsterte. Nicht nur das, auch dessen Brustkorb hielt in der Bewegung inne. Es schien, als hielte er den Atem an, und in seinem Gesicht las Manzetti erst Ungläubigkeit, dann Bestürzung. Mit der Behäbigkeit einer Schildkröte setzte sich der mittlerweile aschfahle Intendant auf den nächsten Stuhl, und als die Hand, die das Foto hielt, zu beben begann, liefen ihm zwei dicke Tränen über das Gesicht.
„Ist das Ihre Trompeterin?“, fragte Manzetti.
Der Intendant nickte nur.
„Wie hieß sie denn?“
Die Vergangenheitsform, diese in unabänderliche Grammatik gemeißelte Gewissheit, dass jemand nur noch hieß, war wohl ausschlaggebend für die beiden Bäche, die nun aus den Augen des Intendanten brachen.
„Sie hieß Carolin Reinhard“, sagte die ältere Dame, die bis dahin still dem Gespräch gelauscht hatte.
Manzetti nickte und legte den Strauß roter Rosen, den er noch immer unter den linken Arm geklemmt hatte, auf einen Stuhl. Dann erst zog er den Mantel aus.
„Warten Sie“, sagte die Frau und erhob sich. „Ich hole Ihnen eine Vase.“ Ohne weitere Worte ging sie zum Tresen und kam mit einem großen Bierglas voller Wasser zurück. „So, das müsste gehen.“
Manzetti bedankte sich, steckte die Blumen in das Glas und stellte es neben sich auf den Fußboden.
„Mein Name ist Hofmann. Margarethe Hofmann, und wir sind uns schon einmal begegnet“, behauptete sie, wobei sie mit ihrem gewinnenden Lächeln der Situation ein gewisses Maß an Vertrautheit verlieh.
„Wirklich?“, fragte Manzetti, der immer noch zumindest ein Auge auf den Intendanten gerichtet hatte.
„Es war heute in der Früh, als Sie in der Wollenweberstraße vor meinem Haus standen. Erinnern Sie sich jetzt?“
Er musste nicht länger überlegen. Es war die Frau in dem schicken Morgenmantel. Nur war sie jetzt in einen schwarzen Hosenanzug gekleidet und hatte ihr langes Haar streng frisiert. An ihrem Hinterkopf war es sogar zu einem kleinen Dutt zusammengesteckt, und durch die grausilberne Farbe wirkte es erhaben. Die dezent aufgetragene Schminke hatte zudem ein völlig anderes Gesicht geschaffen.
„Jetzt erinnere ich mich“, gab Manzetti zu.
„Sebastian, soll ich dich nach Hause bringen?“, fragte Frau Hofmann, als der Intendant den Kopf hob und kräftig in ein Taschentuch schnaubte.
„Nein. Es geht schon“, sagte der Intendant und wischte die letzten Tränen aus den rot unterlaufenen Augen.
„Das ist Sebastian Hendel, unser Intendant, und ich bin eine langjährige Mitarbeiterin hier im Haus.“ Während dieser knappen Vorstellung streichelte sie sehr sanft den Arm des Intendanten.
„Hier herrscht ja eine sehr ausgelassene Stimmung, oder täusche ich mich da?“ Damit versuchte Manzetti, die offensichtliche Trauer des Intendanten zu überbrücken und das Gespräch in Gang zu halten.
„Theater. Da dürfen Sie nicht alles auf die Goldwaage legen. Nicht die Worte, die gesprochen werden, und auch nicht die Gesten oder gar die Gefühle, die Sie meinen beobachten zu können. Hier ist auch noch alles Schauspiel, wenn der Vorhang längst gefallen ist.“
Manzetti nickte, obwohl er nicht ganz verstanden hatte, was die Frau ihm damit sagen wollte. Oder war gar nicht er, sondern der Intendant Adressat der erklärenden Worte?
Der Blick zum Theaterchef musste wohl seine Gedanken transparent gemacht haben, denn schnell fügte Frau Hofmann eine Bemerkung hinzu. „Das gilt allerdings nicht für Sebastian. Er mochte Carolin sehr.“
Man merkt deutlich, dass seine Gefühle echt sind, dachte Manzetti. Zu lange war er schon im Geschäft, zu viele unterschiedliche Reaktionen waren ihm bei all den Gesprächen mit Opfern, Tätern und deren Angehörigen schon begegnet, als dass er sich noch leicht täuschen ließ.
Trotzdem war ihm die lockere Stimmung hier nicht ganz geheuer. Und deshalb hatte er mit seiner Frage eigentlich ausdrücken wollen, dass es ziemlich pietätlos sei, wenn drinnen gelacht und gescherzt
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