Havelsymphonie (German Edition)
Claasen. „Was ist denn nun mit dem Täter? Haben wir ihn doch nicht?“ Auf der Stirn des Direktors bildeten sich die ersten Falten, und für einen kurzen Moment verschwand sogar der Rest seines fröhlichen Gesichtsausdrucks.
Manzetti atmete hörbar aus. Er spürte wieder einmal eine Wut auf Hermes, den Götterboten, in sich aufsteigen. Eigentlich hieß der Willi Reimer und arbeitete in der Personalabteilung. Aber Reimer trug den Spitznamen zu Recht, weil er nämlich pausenlos auf den Fluren der Direktion unterwegs war und jede Neuigkeit sofort zu Claasen trug, nebst einer dazugehörenden Schleimspur. Gefährlich für die übrigen Mitarbeiter war dabei, dass Reimer über eine blühende Fantasie verfügte.
„Hat Ihnen das Hermes gebeichtet?“ Manzetti setzte, wie er fand, einen besonders finsteren Blick auf.
„Lassen Sie doch den armen Reimer in Ruhe. Der tut nur seine Pflicht, und Sie können sicher sein, dass ich Fakten von Vermutungen noch immer unterscheiden kann“, versuchte Claasen seinen Hauptkommissar zu beruhigen, was bei dem aber nur nach einem frommen Wunsch klang.
„Wir haben noch keinen Mörder.“ Manzetti versuchte erst gar keine Euphorie bei seinem dienstlichen Leiter aufkommen zu lassen, obwohl er genau wusste, wie gerne der den Chefredakteur der MAZ anrufen wollte, um zu verkünden, wie erfolgreich er selbst die Ermittlungen vorangebracht habe. „Es hat sich lediglich ein Mann gemeldet, der den Zeitungsboten von der Theaterklause weglaufen sah. Das ist schon alles.“ Manzetti wollte wieder sachlich werden und strich sich in geübter Geste mit dem Zeigefinger über die Nase.
„Und er ist nicht der Täter? Warum sollte er denn sonst weglaufen?“, fragte Claasen verblüfft und mit erhobenen Händen.
„Das wissen wir nicht“, musste Manzetti einräumen. „Wie gesagt, der Zeuge hat den Zeitungsboten lediglich weglaufen sehen. Er hat aber nicht erkennen können, was der an der Theaterklause getan hat, und er wusste auch zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass dort überhaupt eine Leiche lag. Das bekam der Mann erst mit, als wir dort aufgetaucht sind und sich der übliche Menschenauflauf bildete.“
„Manzetti, enttäuschen Sie mich nicht. Wo ist dieser Idiot jetzt?“ Der Direktor hatte seine Hände wieder auf den Tisch sinken lassen und trommelte mit den Fingerspitzen ununterbrochen auf dem Kirschbaumholz herum. Seine Grübchen waren erst einmal verschwunden.
„Er ist kein Idiot, falls Sie den Zeitungsboten meinen. Der Mann ist geistig behindert, aber deshalb nicht automatisch ein Frauenmörder.“ Manzettis Erklärung schien sein Gegenüber nicht zu erreichen.
„Und warum haben Sie ihn noch nicht verhaftet?“
„Herr Direktor“, Manzetti atmete wieder deutlich vernehmbar aus, „weil der Mann nicht unter Verdacht steht. Jedenfalls nicht für mich.“
„Und wenn er es doch war?“, bohrte Claasen weiter, offensichtlich auf der Suche nach einem schnellen Erfolg.
„Das glaube ich nicht. Die Tat passt nicht zu ihm. Zu einem Behinderten, meine ich. Außerdem sprechen im Moment mehr Details gegen seine Täterschaft als dafür.“
„Und was heißt hier geistig behindert?“ Claasen lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Manzetti, der Mann soll ein vollkommener Trottel sein. Das ist doch stadtbekannt.“
Manzetti schüttelte heftig den Kopf. „Ist es das? Er ist geistig behindert, ja, und er lebt auch in einer Einrichtung für Betreutes Wohnen . Aber er geht einer geregelten Arbeit nach, und das spricht für Integration, oder?“
„Und was heißt das nun wieder?“ Claasen kippte in seinem Sessel nach vorne.
„Er trägt jeden Tag die Märkische Allgemeine in den Straßen rings ums Theater aus. Ein Zeitungsbote. Danach geht er so gegen sechs Uhr wieder nach Hause und frühstückt im Kreise seiner Mitbewohner. Nur eben heute nicht.“ Manzetti lehnte sich nun doch gegen die Rückenlehne des Sessels.
„Nun lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen“, klagte Claasen. „Was war denn heute anders?“
„Heute kam er in die Einrichtung, verschwand wortlos in sein Zimmer und reagiert seitdem auf gar nichts mehr.“
„Dann fahren Sie dorthin und sprechen mit dem Mann. Oder schleppen Sie ihn her. Wir werden ihn schon zum Reden bringen.“
„Das glaube ich nicht, Herr Direktor.“
„Und warum nicht?“
„Der Mann ist Autist und hat sich vollkommen in sich zurückgezogen.“
Es trat eine Pause ein, während der Claasen aufstand, zum Fenster ging und
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