Havoc
sah sich noch einmal prüfend um, ob Scratch ihm auch nicht gefolgt war, und lief dann auf die Kreuzung zu, als plötzlich jemand aus dem Dunkel zwischen zwei Häusern trat.
Seth blieb wie angewurzelt stehen. Es war eine dünne Frau in einem altmodischen schwarzen Kostüm. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Dutt frisiert, der ihr schmales Gesicht noch spitzer wirken ließ. Mit der einen Hand presste sie eine große Tasche an ihren Körper, in der anderen hielt sie einen Regenschirm.
»Ein scheußliches Unwetter ist das«, rief sie, während sie geduckt auf ihn zueilte. »Meine Güte, Junge, du bist ja völlig durchnässt! Warte. Ich habe noch einen Ersatzregenschirm in der Tasche.« Sie hielt ihm ihren eigenen Schirm hin. »Könntest du den kurz für mich halten, dann hole ich ihn schnell heraus.«
Warum nicht? , dachte Seth. Die Frau sah völlig harmlos aus und einen Regenschirm konnte er tatsächlich gut gebrauchen. Er streckte die Hand danach aus, als plötzlich ein Blitz über sie hinwegzuckte. Das freundlich lächelnde Gesicht der Frau verwandelte sich für den Bruchteil einer Sekunde in das Antlitz eines Dämons: eine von Falten durchfurchte Fratze mit blitzenden Reißzähnen und gelb glühenden, horizontal geschlitzten Augen, die direkt aus einem Albtraum entsprungen zu sein schien.
Seine Freundin Kady hatte ihm von dieser Frau erzählt. Sie hieß Miss Benjamin. Und sie war noch viel gefährlicher als Icarus Scratch.
Sobald Miss Benjamin seine erschrockene Miene bemerkte, verzerrte sich ihr Gesicht zu einer höhnischen Grimasse. Ihre Hand schnellte nach vorne, um seinen ausgestreckten Arm zu packen, aber Seth zog ihn gerade noch rechtzeitig zurück, sodass ihre spitzen Fingernägel nur seine Jacke streiften. Seth drehte sich um und rannte, so schnell er konnte, durch den strömenden Regen davon.
»Du kannst uns nicht entkommen, Seth Harper!«, kreischte sie ihm hinterher. »Wir finden dich, ganz egal, wohin du auch gehst. Gib uns den Shard!«
Panik stieg in ihm auf. Der Anblick des Dämons hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. In Todesangst floh er durch die Straßen. Der Regen lief ihm übers Gesicht, der Sturm zerrte an seiner völlig durchnässten Kleidung und bei jedem Schritt schlug ihm der Rucksack mit der schweren Skulptur gegen den Rücken. Er rannte durch schmale Gässchen, hetzte durch Vorgärten und drückte sich an Häuserwänden entlang. Gelegentlich erhaschte er einen Blick auf eine Katze, die neben ihm herhuschte oder ihn von einem Dach aus beobachtete. Überhaupt schienen alle Katzen im Ort von einer seltsamen Unruhe befallen zu sein. Immer wieder hörte er sie jämmerlich maunzen oder schreien. Seth fragte sich, auf wessen Seite sie waren. Verrieten sie seinen Feinden, wo er war, oder wollten sie ihn warnen, so schnell wie möglich das Weite zu suchen?
Mittlerweile war er bei der Schrebergartensiedlung angelangt. Der Regen hatte die Erde der Gemüse- und Blumenbeete in schwarzen Matsch verwandelt. Hinter den Gärten begann der Wald. Dazwischen lag nur eine Landstraße.
Keuchend hielt Seth darauf zu, sprang über Zäune und stürmte quer durch die Beete. Bei jedem seiner Schritte spritzte Schlamm auf und er drohte mit den Turnschuhen auf dem glitschigen Untergrund auszurutschen. Immer wieder warf er angstvolle Blicke über die Schulter, aber es war so dunkel, dass er kaum etwas sehen konnte.
Und dann ertönte wieder dieses grauenerregende Heulen, das seinen Vater vorhin so erschreckt hatte. Nur dass es diesmal ganz aus der Nähe kam.
Es klang, als würde das Ungeheuer irgendwo in der Schrebergartensiedlung herumstreifen.
Seth hastete durch die Gemüsebeete, ohne darauf zu achten, wo er hintrat, aber der starke Wind, der Regen und der matschige Boden bremsten ihn immer wieder aus. Unter Aufbietung aller Kräfte sprintete er auf die Landstraße zu.
Blitze flammten auf und ließen die Umgebung sekundenlang aus dem Dunkel hervortreten. Da! Irgendetwas Riesiges bewegte sich hinter einem der Holzverschläge. Seth erhaschte bloß einen flüchtigen Blick auf die raubkatzenähnlichen Hinterläufe, doch das reichte, um ihn erstarren zu lassen.
Bitte mach, dass es mich nicht gesehen hat!
Aber alles Flehen war vergeblich. Wieder durchschnitt das lang gezogene Heulen die Nacht, das sich schließlich zu einem hyänenhaften Schrei steigerte. Seth rannte weiter, so schnell die Beine ihn trugen.
Er hatte das Ende der Schrebergartensiedlung fast erreicht, als das Ungeheuer
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