Hawkings neues Universum
vorkommt, beweist die Geschwindigkeitsabhängigkeit vom Zerfall kurzlebiger instabiler Teilchen, beispielsweise der Myonen. Das sind schwere Geschwister der Elektronen. Ruhende Myonen haben eine Halbwertszeit von 1,5 Millionstel Sekunden. Als Physiker 1976 in einem Experiment Myonen auf 99,94 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigten, stellten sie fest, dass diese rund 29-mal länger existierten. Tatsächlich besagt die Spezielle Relativitätstheorie, dass die „Eigenzeit“ der Myonen um den Faktor 29 gedehnt ist. Auch der Nachweis von Myonen in Meereshöhe beweist die Zeitdilatation. Denn sonst müssten diese Teilchen, die in den oberen Atmosphärenschichten durch den Aufprall der Kosmischen Strahlung erzeugt werden, fast alle zerfallen, bevor sie die Erdoberfläche erreichen. Hier spielt übrigens noch ein weiterer relativistischer Effekt eine Rolle – die schon von dem niederländischen Physiker Hendrik Antoon Lorentz entdeckte, aber erst von Einstein erklärte Längenkontraktion: Nahe der Lichtgeschwindigkeit verkürzen sich Abstände und Objekte in Bewegungsrichtung. Für die Myonen ist der Weg zum Erdboden also quasi gestaucht.
Zeitdilatation und Längenkontraktion widersprechen unserem Alltagsverstand, der von einer absoluten Gegenwart und Gleichzeitigkeit ausgeht, weil er im Lauf seiner Evolution nur an langsame Geschwindigkeiten angepasst wurde. Doch die theoretischen und experimentellen Einwände lassen sich nicht aus der Welt schaffen. „Der Präsentismus ist eine vorrelativistische Sichtweise der Realität, weil er auf absoluter Simultanität gegründet ist“, sagt Petkov. „Der Präsentismus widerspricht der Speziellen Relativitätstheorie und ist deshalb falsch.“
Die herkömmlichen dreidimensionalen Beschreibungen sind durchaus möglich, wie Petkov betont. Einstein selbst hatte diese Sprechweise verwendet. Doch in Wirklichkeit ist die Realität dahinter vierdimensional, wenn man die Relativitätstheorie ernst nimmt. „Wenn die Welt dreidimensional wäre, dann wären die kinematischen Konsequenzen der Speziellen Relativitätstheorie und die Experimente, die sie bestätigen, unmöglich“, fasst Petkov zusammen. „Physikalische Objekte sind in der Zeit ausgedehnt, was bedeutet, dass sie vierdimensional sind.“
Die Raumzeit und ihre Schatten
Die Zeit als vierte Dimension – was sich hier so leicht liest, ist eine radikal neue Sicht der Welt. Denn in gewisser Weise wird die Zeit dadurch verräumlicht, auch wenn sie sich in den Gleichungen von den drei Raumdimensionen durch ein umgekehrtes Vorzeichen unterscheidet, also ein Minuszeichen, wenn die Raumkoordinaten positiv gesetzt werden. Mehr noch: Raum und Zeit sind in der Relativitätstheorie zu einer untrennbaren Einheit verschweißt: der Raumzeit.
Diese Konsequenz erkannte als erster Hermann Minkowski, bei dem Einstein am Züricher Polytechnikum Mathematik-Vorlesungen gehört – aber meistens geschwänzt – hatte. Am 21. September 1908 sprach der spröde wirkende Mathematiker in einem Vortrag vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln über die drei Jahre zuvor von Einstein formulierte Spezielle Relativitätstheorie. In seinem Vortrag sagte er die folgenden, pathetischen und oft zitierten Worte, die in ihrer Tragweite aber noch lange nicht ganz verstanden wurden: „Die Tendenz ist eine radikale. Von Stund’ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbstständigkeit bewahren.“
Zwar hatten weder Lorentz noch Einstein das Raum-Konzept attackiert. Aber aus der Perspektive der Speziellen Relativitätstheorie gibt es keinen absoluten Raum, sondern gewissermaßen unendlich viele Räume – ähnlich wie eine unendliche Zahl zweidimensionaler Ebenen in einem dreidimensionalen Volumen gedacht werden kann. Die Vereinigung von Raum und Zeit, das ist die erstaunliche Lehre der Relativitätstheorie, ergibt einen vierdimensionalen Raumzeit-Block. Mit Minkowskis Worten: „Die dreidimensionale Geometrie wird zu einem Kapitel in der vierdimensionalen Physik.“
Von der vierten Dimension zum Block-Universum
Die Zeit als vierte Dimension hat eine lange Tradition. Schon vor Hermann Minkowskis Interpretation der Speziellen Relativitätstheorie 1908 hatte der britische Schriftsteller Herbert George Wells darüber geschrieben – in seinem 1895 veröffentlichten Roman Die Zeitmaschine . Und noch früher, 1884, spekulierte der britische Mathematiker
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