Hawks, John Twelve - Dark River
sie wieder allein waren, schenkte er sich noch ein Glas Wein ein.
»Das Horologium war keine kleine Sonnenuhr, die man in irgendeinem Hinterhof gefunden hat. Sie markierte das Zentrum von Rom – ein riesiger Travertinkreis mit eingelassenen Linien und Buchstaben aus Bronze. Falls Sie an der Piazza di Montecitorio am Parlamentsgebäude vorbeigegangen sind, haben Sie vielleicht den ägyptischen Obelisken gesehen, der früher als Zeiger diente.«
»Und nun liegt die Sonnenuhr unter der Erde?«
»Der größte Teil des antiken Rom liegt unter der Erde. Man könnte sagen, dass sich unter jeder Stadt eine unsichtbare Geisterstadt verbirgt. Ein kleiner Teil der Sonnenuhr wurde in den Siebzigerjahren von deutschen Archäologen – Freunden von mir – freigelegt, aber nach einem Jahr stellten sie die Grabungen ein. Unter den Straßen der Stadt sprudeln zahlreiche Quellen, und ein Wasserlauf fließt über die Sonnenuhr. Außerdem gab es Sicherheitsprobleme. Die Carabinieri wollten verhindern, dass die Archäologen einen direkten Tunnel zum Parlamentsgebäude graben.«
»Und was hat das mit der Suche nach einem Zugang zu den anderen Sphären zu tun?«
»Das Horologium war mehr als bloß eine Uhr oder ein Kalender. Es stellte den Mittelpunkt des Römischen Reiches dar. An den Außenrändern der Sonnenuhr wiesen Pfeile nach Afrika und nach Gallien, zudem befanden sich dort Wegbeschreibungen zu spirituellen Toren, die in andere Welten führen. Wie ich schon sagte, teilte man in der Antike unsere beschränkte Weltsicht nicht. Die Erste Sphäre hätte man wahrscheinlich als eine entfernte Provinz am Rand der erforschten Welt betrachtet. Als die deutschen Archäologen ihr Projekt beendeten, war der größte Teil der Sonnenuhr noch mit Erde und Schutt bedeckt. Das ist aber nun schon länger als dreißig Jahre her, und seitdem wurde Rom mehrere Male überflutet. Vergessen Sie nicht, dass das gesamte Areal von einem unterirdischen Wasserlauf unterspült wird. Ich habe die Stelle besichtigt und bin überzeugt, dass inzwischen ein weit größerer Teil der Sonnenuhr freiliegt.«
»Warum haben Sie noch nicht nachgesehen?«, fragte Maya.
»Jeder, der die Stelle besuchen will, muss gelenkig, sportlich und« – Lumbroso zeigte auf seinen Bauch – »ein gutes Stück dünner sein als ich. Er brauchte zum Tauchen eine Druckluftflasche und ein Atemgerät. Und er müsste mutig sein. Das Erdreich ist an dieser Stelle sehr instabil.«
Für ein paar Minuten schwiegen beide. Maya nippte an ihrem Wein. »Und wenn ich die nötige Ausrüstung besorgen würde?«
»Die Ausrüstung ist nicht das Problem. Sie sind die Tochter meines Freundes, das bedeutet, dass ich Ihnen helfen will. Aber seit der letzten Flutung hat niemand mehr das Gebiet erforscht. Ich will, dass Sie versprechen, umzukehren und zurückzukommen, falls es zu gefährlich wird.«
Mayas erster Impuls war zu sagen: Ein Harlequin verspricht nichts . Aber diese Regel hatte sie bereits verletzt, als sie Gabriel ihr Versprechen gab.
»Ich werde versuchen, vorsichtig zu sein, Simon. Auf mehr kann ich mich nicht einlassen.«
Lumbroso knüllte seine Serviette zusammen und warf sie auf den Tisch. »Mein Magen rebelliert. Das ist kein gutes Zeichen.«
»Und ich sterbe plötzlich vor Hunger«, sagte Maya. »Wo bleibt der Kellner?«
VIERUNDDREISSIG
A m nächsten Abend traf Maya sich vor dem Pantheon mit Lumbroso. Sie hatte den Tag damit zugebracht, in den westlich gelegenen Vororten in einem Sporttaucherladen eine Taucherausrüstung zu kaufen, die sie in zwei Leinenbeutel gestopft hatte. Auch Lumbroso war Einkaufen gewesen und hatte eine starke, batteriebetriebene Lampe erstanden, die Bergarbeiter unter Tage benutzen. Lächelnd ließ er den Blick über die Touristen streifen, die auf dem Platz saßen und Eis aßen.
»Der griechische Philosoph Diogenes von Sinope wanderte mit einer Laterne durch Athen, um einen ehrlichen Mann zu finden. Was wir suchen, ist genauso selten, Maya. Sie müssen ein Foto – ein einziges Foto – von der Wegbeschreibung schießen, die uns in eine andere Welt führt.« Er lächelte sie an. »Sind wir bereit?«
Maya nickte.
Lumbroso begleitete sie bis zum Campo Marzio, einer Seitenstraße in der Nähe des Parlaments. In der Mitte des Häuserblocks blieb er zwischen einer Teestube und einer Parfümerie vor einem Durchgang stehen.
»Haben Sie einen Schlüssel?«, fragte Maya.
Lumbroso griff in seine Jacketttasche und zog ein Bündel Euros heraus. »In
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