Hawks, John Twelve - Dark River
Anscheinend fühlten sie dieselbe Einsamkeit, egal, wie viele Menschen sich im Raum befanden.
Zwei Mal täglich besuchte Maya Matthew Corrigans Körper in der Kammer unter der Vorratshütte. Die restliche Zeit verbrachte sie allein, und oft spazierte sie den Steinpfad zum Bootsanleger hinunter, um aufs Meer hinauszustarren. Vicki wagte nicht zu fragen, was geschehen war, aber ganz offensichtlich hatte Maya Mother Blessing eine Ausrede geliefert, um Skellig Columba zu verlassen und Gabriel mitzunehmen.
An ihrem achten Tag auf der Insel wachte Vicki frühmorgens auf und bemerkte, dass der Harlequin neben ihr kniete. »Komm mit nach unten«, flüsterte Maya. »Ich muss mit dir reden.«
Vicki wickelte sich einen schwarzen Schal um die Schultern und stieg in die Küche mit dem langen Tisch und den zwei Bänken hinunter. Maya hatte ein Torffeuer im Ofen entzündet, das den Raum ein wenig wärmte. Vicki setzte sich auf eine Bank und lehnte sich an die Wand. Auf der Tischmitte stand eine dicke, brennende Kerze, und Schatten huschten über Mayas Gesicht, während sie auf und ab ging.
»Kannst du dich an unsere Ankunft in Portmagee erinnern, und wie Gabriel und ich losgezogen sind, um Kapitän Foley ausfindig zu machen? Nachdem wir sein Haus verlassen hatten, saßen wir unten am Strand auf einer Bank, und ich habe Gabriel geschworen, ihm immer zur Seite zu stehen, egal, was kommt.«
Vicki nickte und antwortete leise. »Das muss dir sehr schwergefallen sein. Du hast mir erzählt, dass ein Harlequin nur ungern Versprechungen macht …«
»Es ist mir überhaupt nicht schwergefallen! Ich wollte diese Worte aussprechen – mehr als alles andere.« Maya starrte in die Flamme. »Ich habe Gabriel ein Versprechen gegeben, und ich habe die Absicht, es einzuhalten.«
»Wie meinst du das?«
»Ich werde nach London fahren und Gabriel suchen. Niemand kann ihn besser beschützen als ich.«
»Was ist mit Mother Blessing?«
»Sie hat mich in der Kapelle angegriffen, aber sie wollte sich damit bloß wichtig machen. Ich werde mich kein zweites Mal von ihr einschüchtern lassen.« Mit Wut in den Augen begann Maya, wieder herumzulaufen. »Ich werde es mit ihr oder Linden oder wem auch immer aufnehmen, der mich von Gabriel trennen will. Seit ich ein Kind war, haben alle möglichen Harlequins mich herumgeschubst, aber damit ist jetzt Schluss.«
Mother Blessing wird dich töten , dachte Vicki, doch sie schwieg. Mayas Gesicht schien vor Verbissenheit zu glühen.
»Wenn dir so viel an deinem Versprechen liegt, solltest du nach London fahren. Mach dir um Matthew Corrigan keine Sorgen. Ich werde hier sein, wenn er in diese Welt zurückkehrt.«
»Ich mache mir nur Sorgen um meine Verpflichtung, Vicki. Ich habe eingewilligt, hierzubleiben und ihn zu beschützen.«
»Die Insel ist sicher«, antwortete Vicki. »Sogar Mother Blessing hat das gesagt. Sie war sechs Monate lang hier und hat nicht einmal einen Vogelkundler getroffen.«
»Und wenn irgendwas passiert?«
»Dann werde ich das Problem lösen. Es geht mir genauso wie dir, Maya. Ich bin kein kleines Mädchen mehr.«
Maya blieb stehen und musste lächeln. »Ja. Auch du hast dich verändert.«
»Foley kommt morgen Früh mit den Vorräten. Er kann dich aufs Festland mitnehmen. Aber wie willst du Gabriel in London ausfindig machen?«
»Wahrscheinlich wird er Kontakt zu den Free Runnern aufnehmen. Ich war in ihrem Haus in Südlondon. Ich werde einfach dorthin gehen und mit seinen Freunden sprechen.«
»Nimm das Geld aus meinem Rucksack. Hier auf der Insel können wir es nicht gebrauchen.«
»Maya …«, flüsterte eine heisere Stimme, und überrascht entdeckte Vicki Alice neben dem Treppenabsatz. Zum ersten Mal, seit das Kind zu ihnen gekommen war, hatte es ein Wort gesprochen. Alice bewegte lautlos die Lippen, so als glaube sie nicht, dass sie noch einen Ton herausbringen könnte. Dann sprach sie wieder. »Bitte geh nicht, Maya. Du sollst hierbleiben.«
Maya setzte die übliche Harlequinmaske auf, aber dann löste sich der verkniffene Zug um ihren Mund und sie ließ ein Gefühl zu, das mit Wut nichts mehr zu tun hatte. Im Lauf der letzten Monate hatte Vicki Maya so oft mutig handeln sehen. Aber am mutigsten war sie jetzt, genau in diesem Moment, als sie den Raum durchquerte und das kleine Mädchen in die Arme nahm.
Einer der britischen Söldner, die mit Boone nach Irland geflogen waren, riss die Tür zum Laderaum des Helikopters auf. Boone saß auf einer Metallbank und tippte
Weitere Kostenlose Bücher