Hawks, John Twelve - Dark River
blieben sogar die Vogelkundler weg. Rosaleen bevorzugte die stille Jahreszeit, auch wenn tagsüber nicht viel passierte. Ihre älteste Schwester war bei der Post in Dublin angestellt. Ständig erzählte sie vom allerneuesten Kinofilm oder dem Theaterstück, das sie im Abbey Theatre gesehen hatte. Einmal war sie sogar so taktlos gewesen, Portmagee ein »kleines verpenntes Dorf« zu nennen.
Heute Abend jedoch hatte Rosaleen genug Neuigkeiten für eine ansehnliche E-Mail erfahren. Auf Skellig Columba waren ein paar sehr mysteriöse Dinge vorgefallen, und ihr Vater war der Einzige, der aus erster Hand Informationen über die Insel liefern konnte.
Rosaleen erinnerte ihre Schwester daran, dass vor einem Jahr ein älterer Mann namens Matthew auf die Insel gefahren war, und zwar in Begleitung einer rothaarigen Irin, die ganz plötzlich zur Anführerin der Klarissen aufgestiegen war. Vor ein paar Tagen war eine noch viel seltsamere Reisegruppe in Portmagee aufgetaucht – ein chinesisches Mädchen, eine Schwarze, ein Amerikaner und eine junge Frau mit britischem Akzent. Einen Tag nachdem er sie auf die Insel gefahren hatte, wurde ihr Vater wieder gerufen, um die so genannte Äbtissin und den Amerikaner aufs Festland zu bringen. Was immer da vor sich geht, muss ziemlich seltsam sein , tippte Rosaleen. Wir leben hier vielleicht nicht in Dublin, aber auch Portmagee hat seine Geheimnisse.
Tief in ihrem Computer versteckt saß ein Spionagewurm, wie er sich in Millionen Privatcomputern auf der ganzen Welt eingenistet hatte. Der Wurm lauerte wie eine exotische Schlange am Grund einer trüben Lagune. Wenn bestimmte Wörter oder Namen auftauchten, sammelte das Programm die betreffenden Daten ein, kopierte sie und schlängelte sich durchs Internet, um sie seinem Herrn zu bringen.
Vicki Fraser liebte es, im Schlafraum über der Klosterküche aufzuwachen. Ihr Gesicht war immer kalt, aber der Rest ihres Körpers lag unter einem dicken Federbett aus Gänsedaunen. Alice lag schlafend in einer Ecke und Maya nur wenige Schritte daneben, das Harlequinschwert immer in Griffnähe.
Morgens war es in der Küchenhütte still. Wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel auf das Gebäude traf, fiel ein weißgelber Lichtstrahl durch den Fensterschlitz, um langsam über den Boden zu kriechen. Vicki dachte an Hollis und stellte sich vor, er läge neben ihr. Sein Körper war nach den zahllosen Kämpfen und Schlägereien von Narben übersät, aber wenn sie in seine Augen blickte, erkannte sie seine Sanftheit. Jetzt, da sie auf der Insel in Sicherheit waren, hatte Vicki Zeit, über ihn nachzudenken. Hollis war ein ausgezeichneter Kämpfer, aber Vicki befürchtete, dass sein Selbstvertrauen ihn in Schwierigkeiten bringen könnte.
Gegen sechs Uhr betrat Schwester Joan die Hütte, klapperte mit den Kesseln und setzte Tee auf. Eine halbe Stunde später kamen die drei anderen Nonnen dazu, und sie frühstückten alle zusammen. Auf der Mitte des großen Tischs stand ein riesiges Honigglas. Alice nahm es mit beiden Händen und versuchte, klebrige Figuren auf ihren Haferbrei zu gießen.
Das kleine Mädchen weigerte sich noch immer zu sprechen, aber sie schien das Leben auf der Insel zu genießen. Sie half den Nonnen bei der täglichen Arbeit, pflückte Blumen, die sie in leere Marmeladengläser stopfte, und erkundete die Insel mit einem Stock in der Hand, der ihr als Harlequinschwert diente. Einmal zeigte sie Vicki einen schmalen Pfad, der in die Klippen gehauen war. Er war knapp hundert Meter lang und führte geradewegs auf den steinigen Strand hinunter, wo die Wellen sich an den Felsen brachen.
Am Ende des Pfades gab es eine kleine Höhle mit einer moosbewachsenen Steinbank und einem kleinen Altar mit keltischem Kreuz. »Sieht aus wie eine Einsiedlerhöhle«, sagte Vicki, und die Vorstellung schien Alice zu gefallen. Die beiden setzten sich vor den engen Höhleneingang, und Alice warf Kieselsteine ins Meer.
Alice behandelte Vicki wie eine ältere Schwester, deren Aufgabe es war, ihr das Haar zu kämmen. Sie vergötterte die Nonnen, die ihr aus Abenteuerromanen vorlasen und zum Tee Rosinenkuchen für sie backten. An einem Abend streckte sie sich sogar auf der Bank in der Kapelle aus und legte den Kopf in Schwester Joans Schoß. Maya hingegen gehörte für das kleine Mädchen in eine andere Kategorie; sie war weder ihre Mutter noch war sie Schwester oder Freundin. Manchmal bemerkte Vicki, wie Alice und Maya sich seltsam vertraute Blicke zuwarfen.
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