Heaven (German Edition)
hereinströmte, wurde dünner. Ich versuchte, die Pferde zu zählen, die auf den Weiden grasten, um meinen Kopf für das frei zu bekommen, was kommen mochte. Hoffentlich würde sich die Wut meiner Geschwister gegen mich richten, nicht gegen Xavier. Ich wusste, dass ich mich entschuldigen und zugeben sollte, einen Fehler gemacht zu haben, aber ich bereute unsere Tat nicht. Jedenfalls noch nicht.
Der Tag, der sich vor wenigen Stunden noch so perfekt angefühlt hatte, war uns verdorben. Wie lange fuhren wir schon? Mir kam es ewig vor, aber ich hatte sämtliches Zeitgefühl verloren. Waren wir bereits im nächsten Bundesstaat? Mein Gefühl sagte mir, dass wir Georgia hinter uns gelassen hatten. Die Gegend hier sah ganz anders aus. Die Bäume waren dicker und höher, die Luft so frisch wie junge Äpfel. Wir fuhren in Richtung Norden, am Horizont zeichneten sich die diesigen Umrisse eines Gebirges ab. Wo wir aber genau waren, wusste ich nicht und wagte auch nicht, danach zu fragen. Xavier starrte schweigend aus dem Fenster. Bestimmt dachte er noch immer an Pater Mel und ging die Geschehnisse immer wieder im Kopf durch. Sicher fragte er sich, ob er doch irgendetwas hätte tun können. Ich hätte ihn so gern getröstet, aber nichts, was ich sagen konnte, würde etwas ändern oder den Schmerz und das Gefühl der Schuld lindern, das ihn jetzt durchströmte.
Endlich hielten wir an – vor einer Blockhütte, die so mit ihrer Umgebung verschmolz, dass ich sie erst bemerkte, als wir direkt vor ihrer grünen Tür standen.
«Wo sind wir?», fragte ich und atmete den frischen Pinienduft ein.
«In den Smoky Mountains.» Die Stimme meines Bruders klang wie ein leises Donnern. «North Carolina.»
Ich hatte gerade Zeit, den Namen der Blockhütte zu lesen – Willow Lodge – und die beiden robusten Schaukelstühle auf der Veranda zu betrachten, als Gabriel schon hastig einen Schlüssel aus der Tasche zog und uns hineinführte. Mein Blick fiel als Erstes auf den Kiefernholzboden und einen offenen Kamin mit Kochstelle.
Ich wusste, ich sollte Gabriel dankbar sein, weil er uns gerettet hatte, aber ich war müde und ärgerte mich zudem immer mehr darüber, wie er uns behandelte. Es war so typisch Gabriel: Er betrachtete uns als Kriminelle und schimpfte uns wie kleine Kinder. Sicher, ich stand in seiner Schuld, aber welches Recht hatte der Himmel, über Xaviers Leben zu bestimmen? Xavier war ein Mensch, und in seiner Welt war unser Handeln legitim, wenn nicht sogar löblich. Und seine Welt war die einzige, die mich noch interessierte. Xavier und ich mochten vielleicht übereilt und impulsiv gehandelt haben, aber trotzdem hatten wir die vernichtenden Blicke, mit denen wir bedacht wurden, nicht verdient. Was gab meinen Geschwistern das Recht, über uns zu urteilen? Es war nicht richtig, dass wir uns so schlecht fühlen sollten.
Als wir alle die Hütte betreten hatten, konnte Gabriel nicht länger an sich halten. Ohne Vorwarnung packte er mich an der Schulter und schüttelte mich grob. «Wann wirst du endlich erwachsen?», fragte er. «Wann wirst du begreifen, dass du ein gestohlenes Leben führst, das dir nicht gehört? Du bist kein Mensch, Bethany! Wieso kriegst du das nicht in deinen Kopf?»
«Ganz ruhig, Gabriel.» Xavier trat beschützend zwischen uns. «Sie unterliegt nicht mehr deiner Verantwortung.»
«Ach, nein? Und wer ist dann für sie verantwortlich? Du etwa? Und, wie willst du sie beschützen?»
«Für mich muss sich niemand verantwortlich fühlen», erklärte ich. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war ein Konflikt zwischen meinem Bruder und meinem frischgebackenen Ehemann. «Ich habe meine Entscheidung ganz allein getroffen und bin bereit, die Konsequenzen zu tragen. Xavier und ich lieben uns, und niemand wird uns daran hindern, dass wir zusammenbleiben.»
Meine eigenen Worte gaben mir ein Gefühl der Stärke, Gabriel aber stöhnte erstickt auf.
«Du lebst in einer Traumwelt!»
«Ich kann nicht so leben wie du», antwortete ich. «Ich kann meine Gefühle nicht verstecken und so tun, als hätte ich keine.»
«Aber deine Gefühle fressen dich auf und kontrollieren dich! Alles, was du in letzter Zeit gemacht hast, war vollkommen egoistisch.»
«Nur weil du nicht weißt, was Liebe ist, ist sie nicht falsch.»
«Es geht hier nicht mehr um Liebe! Es geht um Gehorsam und Verantwortungsbewusstsein. Zwei Dinge, die du nicht zu begreifen scheinst!»
«Wollt ihr euch vielleicht setzen?», fragte Ivy.
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