Heavy Cross
dabei, mich endlich damit auseinanderzusetzen.
Mit meiner Mom konnte ich nicht reden. Ich war wütend, weil meine kleine Schwester in das Alter kam, in dem ich allein unter Jungs gewesen und von ihnen unglaublich schlecht behandelt worden war. Sie in diesem Alter zu sehen, so verletzbar und schutzlos, brachte mich auf die Palme. Meine Schwester war genau in dem Alter, in dem auch meine kleine Cousine gewesen war, als sie zum ersten Mal jemandem von ihrer Vergewaltigung durch Dean erzählt hatte.
Meiner Mom war in ihrer Kindheit dasselbe passiert, deshalb hätte sie in meinem Fall dafür sorgen müssen, dass ich nicht mehr sexuell missbraucht wurde. Aber sie hatte nichts unternommen. Es hatte nicht aufgehört. Ich war jeden Tag damit aufgewacht und jede Nacht mit demselben Schmerz in mir eingeschlafen. Meine Gedanken wurden zu dicken Laken, die sich über mich senkten und mich zu ersticken drohten. Meine Mom würde nichts wiedergutmachen können. Niemand konnte das, auch Freddie nicht. Ich konnte mich nur selbst retten.
Jeden Morgen wachte ich auf und sagte zu mir: »Du musst aufstehen. Du musst zur Arbeit gehen. Du musst dir deinen blöden Kava-Kava-Tee kochen, der nach vergammelter Geburtstagstorte riecht, aber so beruhigend wirkt, dass du aus dem Haus gehen kannst.« Wenn ich den Tee heute nur rieche, bekomme ich schon Panik, was ja eigentlich das Gegenteil des gewünschten Effekts ist. Ich trank immer mehr von diesem schrecklichen Tee, aber eigentlich hätte ich einen Babysitter gebraucht, der verhinderte, dass ich mir mit einem Messer in die Arme ritzte. Manche Schnitte waren so tief, dass ich mein eigenes Fleisch sehen konnte. Freddie schimpfte: »Wenn du stirbst, müssen wir alle ohne dich leben.« Dieser kleine Satz hielt mich am Leben. Freddies Wut hielt mich am Leben. Meine anderen Freunde waren in der Zeit mehr oder weniger abgemeldet. Kathy war mit einem Typen verlobt, mit dem sie eigentlich gar nicht zusammen sein wollte. Aber sie brachte es nicht über sich, es ihm zu sagen. Als ich ihr gestand, dass ich selbstmordgefährdet sei, schickte sie mir Blumen. Auf diese Art lieà sie mich wissen, dass sie mich lieb hatte. Nathan war in seine eigene Welt abgetaucht. Seine damalige Freundin brachte mich im Taxi ins Krankenhaus. Dahin kommt man, wenn man erwachsen ist, aber trotzdem einen Aufpasser braucht. Ich brauchte dringend einen, also kam ich ins Krankenhaus.
ZWEIUNDZWANZIG
22
IM KRANKENHAUS BEGEGNETE ICH lauter Verrückten. Eine Frau schrie mich an: »Ich bring sie um, die Schlampe mit den schwarzen Haaren.« Mit solchen Irren wurde ich zusammengesperrt. Leute, die schon seit Monaten nicht mehr drauÃen gewesen waren. Leute, die sich wie Kinder benahmen, mich in der Cafeteria ansprachen und wissen wollten, ob ich meinen Hamburger noch essen würde oder ob sie ihn haben könnten.
Während meines Aufenthalts im Krankenhaus gab es einen entsetzlichen Schneesturm, als würde sich mein ganzes inne res Drama in der Welt drauÃen zu einer Wetterfront verdichten. Alles fror ein, Rohre barsten, Autos schlitterten durch Portland. Die Menschen konnten ihre Häuser nicht mehr verlassen. Der Strom fiel aus. Nur im Krankenhaus verlief alles ruhig und geordnet, wie immer. Das grelle Neonlicht lieà die Falten, die sich durch Heulerei und Leid in unsere Gesichter gegraben hatten, noch deutlicher hervortreten. Die salzigen Tränen trockneten unsere Haut aus. Vom Stress bekamen wir Pickel, und unsere Nervosität zwang uns, sie auszudrücken. Im Krankenhaus sahen alle scheiÃe aus.
Kaum war ich dort, wo ich sein wollte, bei meinen Babysittern, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich dachte: »Ich komme nie mehr nach Hause.« Die Ãrzte glaubten, ich sei noch nicht so weit, und stellten mir Fragen über mein Leben. Ich erzählte ihnen von Onkel Lee Roy und den drei kleinen As, dass ich Freddie geschlagen und mich geritzt hatte. Immer wurden mir diese Fragen von Männern gestellt, nie von Frauen. Immer nur von Ãrzten. Frauen waren Krankenschwestern, und die Gänge, durch die ich schlurfte, waren von den Räumen, in denen sie am Computer oder über Akten gebeugt saÃen, durch Panzerglas getrennt.
Ich teilte das Zimmer mit einer Frau, die den ganzen Tag wie tot auf dem Bett lag. Das war unheimlich. Die Furie, die mich hatte töten wollen, wäre mir lieber gewesen. Jeden Morgen um sieben wurden wir geweckt und zum Bastelkurs
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