Heavy Cross
oder in die Gruppentherapie geschickt. Nur meine Zimmergenossin blieb einfach liegen und weigerte sich, daran teilzunehmen. Nach einer Weile lieà man sie einfach in Ruhe. Sie lag auf dem Rücken und starrte ausdruckslos an die Decke.
In unserer Gruppe war auch ein Mann, der sich vor ein Auto geworfen hatte. Er war schon seit sechs Monaten im Krankenhaus. AuÃerdem ein drogenabhängiges Missbrauchsopfer und eine Frau, die sich so sehr hatte gehen lassen, dass man ihr die Kinder wegnehmen musste. Es gab Leute, die keine Unterhaltung führen konnten, die den Horizont eines Zwölfjährigen überstieg, aber wir wurden alle gemeinsam therapiert.
»So tief bin ich gesunken«, dachte ich. »Ich bin hier mit jemandem, der sich vor ein Auto geworfen hat.« Jemandem zuzuhören, der seinem Selbstmordimpuls tatsächlich nachgegeben hatte, rüttelte mich wach und half mir. Gleichzeitig dachte ich: »Ja klar, ich bin verrückt. Das soll mir was bringen? Hier landen Leute, die Vergewaltigung und Inzest hinter sich haben?« Im Krankenhaus gab es niemanden, der unsere Fälle aus feministischer Perspektive betrachtet hätte. Und Homosexualität wurde ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen. Bis dahin hatte ich fast nie geweint. Ich hatte geweint, als Tante Jannie gestorben war. Doch jetzt im Krankenhaus konnte ich gar nicht mehr damit aufhören. Ich weinte um mich und meine kleinen Cousinen, um meine Schwester und meine Mutter. Um all die Frauen in der Gruppentherapie und die Frau, die mich umbringen wollte. Um die Frau, die nicht mehr aufstehen wollte, und den Mann, der sich vor ein fahrendes Auto geworfen hatte. Ich weinte und dachte: »Na gut, vielleicht bin ich deshalb hier.« Vielleicht musste ich einen Ort finden, an dem ich endlich weinen konnte. Ich hatte Freddie an den Rand der Erschöpfung gebracht, bis er genug hatte und nicht mehr konnte. Ich hatte die Hand nach meiner Freundin ausgestreckt, und sie hatte mir Blumen geschickt. Jeri war so weit weg, und niemand hatte einen Wagen oder Geld für Ferngespräche. Ich wollte vierundzwanzig Stunden am Tag in den Arm genommen werden. Doch das kann niemand für einen tun. Ich musste mich zwischen Leben und Tod entscheiden â also brauchte ich einen ruhigen Moment, um mir zu überlegen, was ich wollte. Und um zu weinen.
Freddie kam zweimal zu Besuch. Ich wurde nur entlassen, weil er sich dazu bereit erklärte, mich abzuholen. Allein wollten sie mich nicht gehen lassen, schon gar nicht in dem schrecklichen Schneesturm, der immer noch nicht nachgelassen hatte. Ich verlieà die weiÃen Gänge des Krankenhauses und trat hinaus in die klirrende Kälte. Da war frische Luft, die ich gierig einatmete. Der Schnee fühlte sich auf meinem Gesicht an wie eiskalte Küsse. Der graue Himmel wirkte nach dem grellen Licht der Deckenstrahler sanft. Eine Freundin von Freddie, die in einer Queercore-Band namens Third Sex spielte, wartete drauÃen bei laufendem Motor auf dem Fahrersitz des Wagens. Der Schnee um den vibrierenden Wagen herum dampfte.
Die vier Tage im Krankenhaus waren mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Ich hatte das Gefühl, dass es mir etwas besser ging. Die Ãrzte verschrieben mir Lexapro, und eine der Nebenwirkungen war, dass man gähnen musste. Ich gähnte einmal pro Minute, ich schwöre es. Fragt Nathan. Er hielt es kaum noch mit mir aus, denn immer wenn ich gähnte, gähnte er auch. Es war ein einziger gähnender Wahnsinn. Die Lexapro-Tabletten halfen nicht. Sie machten mich so ängstlich, dass ich wie meine verrückte Zimmergenossin mit klappernden Zähnen im Bett liegen blieb. Es war schrecklich und machte alles nur noch schlimmer. Dann stellten sie mich auf Prozac um, und das funktionierte. Ich nahm das Zeug ständig. Aber ich hasste den langen FuÃweg, den ich zurücklegen musste, um mir mein Rezept zu holen. Ich hatte zu sehr verinnerlicht, dass die meisten Leute Dicke für faul halten. Und deshalb hatte ich tief in meinem Herzen Angst davor, tatsächlich faul zu sein â sogar zu faul, um aufzustehen und mir meine Medikamente zu holen.
Jeden Tag kämpfte ich gegen Panik, Traurigkeit und Erschöpfung an. Als es richtig schlimm wurde, telefonierte ich mit Akasha. Sie sagte: »Beth, wenn du von Woche zu Woche nicht weiterkommst, dann denk einfach von einem Tag zum anderen. Wenn du von Stunde zu Stunde nicht mehr kannst, dann mach von Minute zu Minute weiter.
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