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Heavy Cross

Heavy Cross

Titel: Heavy Cross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ditto Beth
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Habseligkeiten – hauptsächlich Klamotten und Platten – in Nathans Wagen, und vor lauter Vorfreude sangen wir während der ganzen Fahrt.
    Schon bald aber fühlte ich mich vom Leben in der neuen Stadt völlig überwältigt. Ich war ungefähr einen Monat lang mit Gossip auf Tour gewesen, als sich herausstellte, dass mit meiner Sehkraft etwas nicht stimmte. Plötzlich wurde alles weiß vor meinen Augen, als hätte jemand den Stecker aus dem Fernseher gezogen. Elektrischer Schnee. Ich konnte nichts sehen. Und dann kehrte meine Sehkraft wieder zurück, und ich dachte: »Das war vielleicht seltsam.« Ich machte einfach weiter. Auf dieser Tournee bekam ich von anderen Leuten immer wieder zu hören: »Beth, du siehst so dünn aus, alles klar?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, mir geht’s gut.«
    Mir ging’s nicht gut. Ich kam in Portland an und konnte nicht aufhören zu weinen. Ich vermisste Jeri. Ich hatte ihn in Olympia zurückgelassen. Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr war er mein bester Freund gewesen, ohne ihn fand ich es einfach schrecklich. Er war und ist mein Lebensretter, aber ich hatte kein Geld, um ihn anzurufen. Freddie bemühte sich, für mich da zu sein, aber er hatte eigene Probleme, musste sich ebenfalls an die neue Stadt und die neue Szene gewöhnen. Ich stand morgens um halb sechs auf und fuhr mit dem Bus zu meinem Job, irgendeinem Scheißjob, den ich an Land gezogen hatte. Frühmorgens in aller Stille, bevor Portland aufwachte und die Sonne den Himmel durchstieß, in der kalten und einsamen Dunkelheit, passierte etwas in meinem Gehirn: Ich wollte sterben. Ich überlegte, wie ich es anstellen sollte. Ich versuchte herauszubekommen, wie sich das Fenster des Busses öffnen ließ, um während der Fahrt auf die Straße zu springen.
    Ich hatte einen Ort verlassen, an dem man immer wusste, was als Nächstes passieren würde, und war in eine richtige Großstadt gezogen. In Olympia existierte nach zehn Uhr abends kein öffentlicher Nahverkehr mehr. In Portland fuhren noch ganz spät Busse, und sie deckten die komplette riesige Stadt ab. Eine Stadt! Ich lebte in einer richtigen Stadt! Kommt schon, lacht mich aus, ihr New Yorker und Londoner. Ich war an einer Schotterstraße aufgewachsen und von dort in eine inselartige Stadt mit einer einzigen Hauptverkehrsstraße gezogen, die sich gerade mal über drei Häuserblocks erstreckte. In Portland bekam ich Panikanfälle.
    Tatsächlich war in Olympia nicht viel los gewesen, und jetzt in Portland gab es eine große und viele kleinere Szenen, die sich manchmal überschnitten und manchmal auch nicht. Die Busse wurden meine Freunde, ich lernte die Strecken auswendig und fuhr kreuz und quer durch die Stadt. Meinen Führerschein habe ich erst mit fünfundzwanzig gemacht, deshalb liebte ich die Busse wirklich.
    Aber kaum dass ich mich heimisch fühlte, passierte etwas mit meinem Körper. Plötzlich brauchte ich eine Brille. Ich sah nichts mehr und war besorgniserregend dünn. So dünn, dass Freddie sich fragte, als er neulich ein Foto von mir aus jener Zeit fand, wer das Mädchen auf seinem Schoß gewesen war. Er dachte: »Beth zeige ich das besser erst gar nicht, die ärgert sich nur.« Dabei war ich das! Ich war so dünn, dass mir Kathys schmale Hose passte. Ich litt an einer geheimnisvollen, schrecklichen Krankheit. Mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen wog ich nur noch 65 Kilo. Normalerweise wog ich 90 Kilo und hatte aus keinem erkennbaren Grund ein Drittel meines Körpergewichts verloren. Ständig hatte ich einen seltsamen Geschmack im Mund, etwas eklig Süßliches und Falsches.
    Das Abgefahrene daran war, dass ich gar nicht merkte, wie dünn ich war. Dadurch, dass ich mir als Dicke ein eigenes Selbstbewusstsein hatte erkämpfen müssen, besaß ich auch eine andere Körperwahrnehmung. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war. Später erfuhr ich, dass mein Gewichtsverlust von meiner Gallenblase verursacht worden war, die mir dann entfernt wurde, aber zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr als ein mysteriöses Krankheitssymptom, das mich an meinem Verstand zweifeln ließ.
    Ich fing an, mich zu ritzen. Bis es mir in Portland so schlecht ging, wusste ich nicht, wie gut es sich anfühlen konnte, sich zu schneiden. Ich war so abgestumpft, dass Schmerz die einzige Gefühlsregung war, die ich noch

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