Hebamme von Sylt
Pollacsek gefiel es, von dem Arzt als Freund bezeichnet zu werden. Er führte ihn mit vielen freundlichen Worten die Treppe hoch in die erste Etage und rief währenddessen ins Haus hinein: »Einen schwarzen Tee für Dr. Nissen! Und für mich einen Kamillentee!«
Leonard Nissen warf einen Blick zu dem Bild von Budapest, hinter dem sich der Tresor verbarg. »Gibt’s was Neues?«
Pollacsek stöhnte auf, griff sich an den Magen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich musste den Arbeitern sagen, dass sie auf ihr Geld warten müssen. Es war schrecklich!«
Nissen sah ihn mitfühlend an. »So etwas ist Gift für Ihre Gastritis.«
Pollacsek hob hilflos die Hände. »Was soll ich machen? Mich nicht aufregen, wenn ich bestohlen werde? Abgesehen von meinem persönlichen Verlust – Sie hätten mal das Misstrauen in den Augen der Arbeiter sehen sollen! Anscheinend glauben einige, ich wolle sie um ihren Lohn betrügen.«
Dr. Nissen war konsterniert. »Wie kommen die nur darauf? Jeder weiß, dass Sie ein ehrlicher Mann sind!«
»Jeder? Sie wissen es und viele andere auch. Aber woher sollen diese armen Teufel wissen, was ich für ein Mensch bin?«
»Sobald der Dieb gefasst ist, wird sich herausstellen, was wirklich geschehen ist. Dann sind Sie rehabilitiert.«
Pollacsek stöhnte erneut auf. »Ich traue Heye Buuß nicht viel zu. Und meine Arbeiter anscheinend auch nicht. Sie wollen sich selbst auf die Suche nach dem Dieb machen.«
Leonard Nissen sah ihn erschrocken an. »Das kann verheerende Folgen haben. Wenn sie nun den Falschen in die Finger kriegen! Wenn sie ihn lynchen, ehe Beweise vorliegen!«
»Oder wenn sie einen Kurgast erwischen«, ergänzte Dr. Pollacsek. »Sie können an einem Tag alles kaputt machen, was ich in vielen Jahren aufgebaut habe.«
Doch daran wollte Nissen nicht glauben. »Ganz Sylt weiß, was es Ihnen zu verdanken hat, Pollacsek. Das wissen auch die Kurgäste. Der Fremdenverkehr ist nicht mehr aufzuhalten.«
Pollacseks Hausdiener brachte den Tee. Als er gegangen war, schnitt der Kurdirektor ein Thema an, das ihn von seinen Sorgen ablenken sollte. »Wie sieht’s mit Ihren Plänen aus, mein lieber Nissen? Sind Sie weitergekommen?«
Leonard Nissen lächelte, aber es war kein glückliches, sondern bestenfalls ein höfliches Lächeln. »Geesche Jensen hat meinen Antrag angenommen.«
Pollacsek sah ihn überrascht an. »Das ist ja wunderbar! Dann haben wir also bald einen Arzt auf Sylt?«
Aber Dr. Nissen schüttelte den Kopf. »Leider gibt es ein Problem.« Er stellte seinen Stock zwischen die Beine und begann ihn zu drehen, während er dem Kurdirektor auseinandersetzte, welche Bedingung Geesche Jensen an eine Heirat geknüpft hatte. »Wussten Sie, dass sie in Marinus Rodenberg verliebt war?«
»In meinen Ingenieur? In den Bruder des Grafen? Ich hatte keine Ahnung.«
»Das ist zwar vorbei, aber sie will ihn nicht mehr sehen. Deswegen möchte sie mit mir aufs Festland ziehen.«
Dr. Pollacsek sah enttäuscht aus. »Das gefällt mir aber garnicht, mein lieber Nissen. Wir brauchen einen Arzt auf Sylt. Und Sie wären genau richtig.«
Nissen nickte. »Sie wissen, wie gern ich bleiben möchte.«
»Vielleicht können Sie Geesche Jensen überreden.«
Aber Dr. Nissen schien nicht daran zu glauben. »Ich wüsste allerdings eine andere Möglichkeit«, sagte er und setzte den Stock mit einer energischen Bewegung auf den Boden. »Sie könnten mir helfen.«
»Raus mit der Sprache!«, rief Dr. Pollacsek resolut. »Was kann ich für Sie tun?«
»Marinus Rodenberg entlassen! Wenn er nicht mehr auf Sylt ist, wird Geesche bleiben wollen.«
Bevor der Kurdirektor etwas entgegnen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Heye Buuß erschien auf der Schwelle. Sein Gesicht war rot, dicke Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, sein Hemd stand offen, mit seinen Holzschuhen trug er Kuhmist herein, dessen Gestank sich sofort im ganzen Raum verbreitete.
»Der Fall ist geklärt!«, rief er, griff sich in den Hosenbund und zog mehrere dicke Geldbündel hervor. Mit einem breiten Grinsen streckte er sie Dr. Pollacsek hin. »Die Lohngelder! Zählen Sie nach! Anschließend werde ich die Verhaftung vornehmen.«
Die Kutsche setzte sich langsam in Bewegung, und Elisa ließ sich hintenübersinken, soweit es ihr Mieder zuließ, dass Eveline ihr unter Aufsicht ihrer Mutter so fest wie möglich geschnürt hatte. Darauf achtete die Gräfin unerbittlich, die mit dem Taillenumfang ihrer Tochter stets unzufrieden
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