Hebamme von Sylt
verwahrte, holte es heraus und legte es auf den Tisch.Dann setzte sie sich und bot Dr. Nissen einen Platz an. »Heute ist ein besonderer Tag. Ich möchte das Marzipan nicht allein essen.«
Dr. Nissen schien zu spüren, dass in diesem Moment über ein Schicksal entschieden werden sollte. Vielleicht sogar über sein eigenes. Augenblicklich trat ein feierlicher Ernst in sein Gesicht. Nervös strich er über sein glatt rasiertes Kinn, als wollte er überprüfen, ob sein Rasiermesser sorgfältig gearbeitet hatte. Ohne etwas zu sagen, sah er Geesche an und wartete auf weitere Erklärungen.
Sie ließ ihn warten, ohne recht zu wissen, warum. Nachdem sie Marinus mit seinem Bruder gesehen hatte, war sie, zufrieden mit ihrer Entscheidung, mit aller Entschlossenheit zurückgegangen. Warum zauderte sie jetzt? Vielleicht, weil sie Leonard Nissen nicht nur sagen, sondern auch zeigen musste, warum sie sich anders entschlossen hatte?
Mit spitzen Fingern, im Bewusstsein der Kostbarkeit, die sie vor sich hatte, griff sie nach einem Marzipanherz, führte es vorsichtig zum Mund und biss hinein. Sie schloss die Augen, um sich nicht von Dr. Nissens fragendem Blick ablenken zu lassen und sich ganz auf den Genuss konzentrieren zu können. Tatsächlich nahm er sie für eine Weile derart gefangen, dass sie an nichts anderes denken konnte als an den Zauber, der auf ihrer Zunge dahinschmolz. Was für eine Köstlichkeit!
Sie hörte Dr. Nissen fragen: »Man könnte meinen, Sie probieren zum ersten Mal davon.«
Geesche riss die Augen auf. Beinahe hätte sie genickt. Aber dann sagte sie: »Sie haben ja gesehen, dass schon ein Herz fehlt.«
»Und die Marzipanrosen, die es auf allen Herzen gab, fehlen auch.«
Er sah sie eindringlich an, als erwartete er eine bestimmte Antwort von ihr, aber sie merkte nun, dass sie aufpassen musste. Das Gespräch durfte sich nicht zu den Marzipanherzen davonmachenund sich am Ende dort verirren. »Sie haben mich etwas gefragt …«
In Dr. Nissens Augen stieg ein Staunen, das in ihr schmerzendes Mitleid erzeugte. In der Hoffnung, dass aus dem Staunen etwas werden konnte, was in ihnen beiden eine Zufriedenheit auslöste, die für ein ganzes Leben reichte, ergänzte sie: »Ich habe es mir überlegt. Ich möchte Ihren Antrag annehmen.«
Aus dem Staunen wurde keine Zufriedenheit, sondern Bestürzung. »Sie wollen wirklich … meine Frau werden?«
»Unter einer Bedingung.« Geesche schob das Marzipan beiseite. Es kam nicht mehr auf eine Schaustellung, sondern auf Worte an. »Wir verlassen Sylt. Wir gehen nach Hamburg.«
»Aber …«, begann Dr. Nissen zu stottern, »Sie lieben Sylt. Sie haben hier Ihr Haus, Ihr Auskommen. Und ich dachte …«
»… an die gemeinsame Geburtshilfe? Das lässt sich auf Sylt nicht verwirklichen. Nicht bei den Syltern. Aber in Hamburg! Sie haben gesagt, auf dem Festland vertrauen die Damen der Gesellschaft eher auf einen Arzt als auf eine Hebamme.«
»Die Damen der Gesellschaft werden demnächst auf Sylt den Sommer verbringen.«
»Warum wollen Sie unbedingt auf Sylt bleiben? Sie haben sicherlich ein Haus in Hamburg, das viel komfortabler ist als meins.«
Aber Dr. Nissen schüttelte den Kopf. »In dem Haus lebt meine geschiedene Frau.«
»Dann kaufen Sie eben ein neues.«
Dr. Nissen erhob sich. In seinen Augen stand nun der Zweifel. Sanft strich er ihr übers Haar, während er fragte: »Warum, Geesche? Warum wollen Sie Sylt verlassen?«
Geesche duckte sich unter seiner Hand, die immer noch ihren Scheitel streichelte, aber ohne jede Zärtlichkeit war. Sie konnte Dr. Nissen verstehen. Er begriff natürlich, dass sie ihre Entscheidung nicht aus Liebe gefällt hatte, nicht einmal ausZuneigung. Und dass er wissen wollte, warum sie nun seinen Antrag annahm, war verständlich.
»Was ist mit Marinus Rodenberg?«, fragte er prompt, als wäre es nicht schlimm, dass sie seine erste Frage noch nicht beantwortet hatte.
»Ich möchte ihn vergessen«, antwortete Geesche.
»In Hamburg?
»Er bleibt auf Sylt. Dr. Pollacsek braucht ihn für die nächsten Strecken der Inselbahn. Ich kann nicht mit einem anderen Mann zusammenleben, wenn ich ihn täglich sehen muss.«
Das schien Dr. Nissen einzuleuchten. Er hörte auf, Geesches Haare zu streicheln, und setzte sich wieder an ihre Seite. Ungeschickt griff er nach ihrer Hand, als hätte er Angst davor, sie zu berühren. »Er wird nicht ewig bleiben. Irgendwann wird die Bahnstrecke fertig sein.«
»Das kann dauern.«
»Dr. Pollacsek ist ein kranker
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