Hebamme von Sylt
war. Aber noch nie hatte Elisa sich in ihrem Mieder so gefangen, so eingekerkert gefühlt wie an diesem Tag. Das lag wohl daran, dass sie ihrer Mutter so lange vorgemacht hatte, sie fühle sich sehr krank, bis den Lügen schließlich die Wahrheit gefolgt war. Tatsächlich fühlte sie sich elend und hinfällig.
Wortlos hatte sie daneben gestanden, während ihre Eltern darüber debattierten, ob die Kutsche offen oder mit geschlossenem Verdeck zur Villa fahren sollte. Ihr Vater wollte gerne offen fahren, die laue Abendluft und den Blick über die Dünen genießen, ihre Mutter jedoch hatte darauf bestanden, dass das Verdeck geschlossen wurde. Elisas Frisur war ein kunstvolles Gebilde, das keinen Windstoß vertrug.
»Sie soll perfekt aussehen«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt. »Fürst Alexander muss hingerissen von ihr sein.«
Graf Arndt hatte seine Tochter liebevoll angelächelt. »Wer ist nicht hingerissen von ihr?«
Dann hatte er zunächst seiner Frau und kurz darauf Elisa in die Kutsche geholfen und geduldig zugesehen, wie Rosemarie und Eveline die Röcke ordneten und zurechtstrichen. Anschließend hatte er sich den beiden gegenüber niedergelassen. »Ihr seht bezaubernd aus.«
Gräfin Katerina trug ein moosgrünes Kleid aus matt schimmernder Seide mit einem spitzen Ausschnitt, in den sich eine weiße Rüsche aus Brüsseler Spitze schmiegte. Ihr cremefarbener Hut war mit einem Band moosgrüner Seide geschmückt, ein winziger Federschmuck nahm ihm die Strenge, aber nichts von seiner Eleganz.
Ihr Aussehen stand im wunderbaren Gegensatz zu der leichten Anmut ihrer Tochter. Elisas Kleid war hell, beinahe weiß, aus einem duftigen Stoff gefertigt, der aussah, als könnte er davonfliegen, mit bauschigen Ärmeln, die so lang waren, dass sie über die eng anliegenden Bündchen fielen, und einem mit hellblauen Perlen bestickten Mieder. Auf ihrer Lockenpracht tanzte ein winziges Hütchen mit einem Hauch von Schleier, das mit einer Hutnadel aus Elfenbein befestigt war. Ein keckes Erscheinungsbild, zu dem die ernste Miene nicht recht passen wollte.
»Lächeln!«, mahnte ihre Mutter, und Elisa zog prompt die Mundwinkel auseinander.
»Vielleicht wäre sie doch besser zu Hause geblieben«, meinte Graf Arndt und betrachtete Elisa besorgt. »Sie sieht wirklich krank aus.«
»Sie ist nicht krank«, entgegnete Katerina scharf. »Was sie quält, muss jede Frau einmal im Leben ertragen. Das ist ganz normal.« Sie warf Elisa einen unzufriedenen Blick zu. »Man sollte es ihr jedoch nicht ansehen.«
Elisa riss sich zusammen. Natürlich hatte ihre Mutter recht. Krank war sie nicht. Dennoch fühlte sie sich so schlecht wie schon lange nicht mehr. Der Grund allerdings war ein anderer, als ihre Mutter annahm. Was ihr auf der Seele lag, ahnte die Gräfin nicht, und sie durfte es niemals erfahren. Elisa war entschlossen, genauso ratlos auszusehen wie ihre Mutter, wenn sie sich demnächst fragen würde, warum Alexander von Nassau-Weilburg urplötzlich das Interesse an der Comtesse von Zederlitz verloren hatte. Wahrscheinlich würde ihre Mutter wieder von ihrer Taille reden, die ihr nie schmal genug war, und Elisa würde schuldbewusst nicken und sich ihr Mieder bereitwillig noch enger schnüren lassen. Wenn nur dieser Abend endlich vorbei wäre!
Die Kutsche rollte den Bundiswung entlang, der in die Süderstraße mündete, vorbei an blühenden Rapsfeldern und saftigen Wiesen, auf denen die Schafe grasten, an kleinen Behausungen, in deren Fenstern Pantoffelblumen in allen Farben prangten. Neben jeder Haustür standen blank geputzte Eimer, in denen sich die Abendsonne brach, in den Gärten wuchsen Rosen und Reseda, oft direkt neben Weißkohl und Kartoffeln. Dort, wo es ein windgeschütztes Eckchen gab, hatte fast jeder Sylter einen Birnbaum gepflanzt, der nur sehr kleine Früchte trug, die aber zu Weihnachten köstlich schmecken sollten. Irgendwo schien eine Hochzeit gefeiert zu werden. Junge Frauen in ihrer rot-weißen Tracht waren zum Fest unterwegs. Zu den kniekurzen weißen Röcken und weißen Blusen trugen sie rote Strümpfe, ein rotes Taillenband und ein rotes Tuch über denSchultern. Auf ihren Köpfen erhob sich eine hohe schwarze Haube, die Hüüf, auf die jede Sylterin besonders stolz war.
Als sie vor der Villa Roth hielten, umrundete gerade Dr. Pollacsek das blühende Rondell im Vorgarten der Villa und ging auf die Eingangstür zu.
»Der Kurdirektor ist auch eingeladen?«, fragte Gräfin Katerina. »Wenn die Königin auch die
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