Hebamme von Sylt
Niemals aber stützte er sich darauf.
Julius Pollacsek und Leonard Nissen standen etwas abseits und redeten sehr vertraut miteinander. Manchmal lachten sie, wie Männer miteinander zu lachen pflegen, die etwas verbindet, was über das gemeinsame Geschlecht hinausgeht.
Wenn Freda Dr. Nissen betrachtete, beschlich sie oft eine heimliche Angst, denn sein Interesse an der Sylter Hebamme war nicht zu übersehen. Freda mochte sich nicht vorstellen, was mit ihr geschehen würde, wenn Geesche Dr. Nissen heiratete und die Insel verließ. Es hieß, dass er in der Nähe von Hamburg in der Privatklinik seines ehemaligen Schwiegervaters arbeite und in einer großen Villa lebe. Von seiner Frau, die ihn betrogen hatte, habe er sich getrennt und erhole er sich nun auf Sylt von den hässlichen Begleitumständen seiner Scheidung. Ebbo hatte gehört, wie Dr. Nissen zu Dr. Pollacsek gesagt hatte, er suche nach einer neuen Herausforderung. Er denke darüber nach, sich auch beruflich von der Familie seiner Frau zu trennen. Vielleicht werde er über kurz oder lang irgendwo eine Arztpraxis eröffnen und sich an einem bescheideneren Leben erfreuen.
Freda kehrte ihren Blick von den beiden Männern ab und ging weiter. Auf das Pfeifen der Inselbahn reagierte sie nicht, von der Aufregung in ihrem Rücken, als die ersten Rauchwolken in Sicht kamen, wurde sie nicht berührt. Was, wenn Dr. Nissen eine Praxis irgendwo auf dem Festland eröffnete und Geesche Jensen ihm dorthin folgte? Dann würde Freda ihr kleines Einkommen verlieren, das doch so wichtig für sie war. Je öfter sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass Geesche irgendwann dem Werben des Arztes nachgeben würde. Was hielt die Hebamme auf Sylt? Verwandte gab es nicht, und seit Andrees nicht mehr lebte, hatte es für Geesche auf Sylt kein Glück mehr gegeben. Warum sollte sie nicht versuchen, es woanders zu finden?
Freda fielen die letzten Schritte schwer. Wenn es doch endlich ein bisschen Sicherheit in ihrem Leben gäbe! Etwas, worauf sie sich verlassen konnte! Auf das bisschen Geld, das sie bei Geesche verdiente, auf Ebbo, der eine Familie gründete, in der sie willkommen war, auf Hanna, die im Hause des Grafen ihr Auskommen fand! Aber nichts war sicher. Geesche konnteDr. Nissen aufs Festland folgen, Ebbo konnte sich den Unmut des Grafen zuziehen, indem er seiner Tochter nachstellte, Hanna konnte sich die Sympathien des Grafen verscherzen, so wie sie sich bisher jede Sympathie verscherzt hatte.
Vor einem Jahr war es geschehen, im Juni 1887! Der wärmste Juni seit Jahren! Nur selten erwachte der Wind, und wenn, dann war er ein Wispern, ein milder Hauch, der übers Meer geflüstert kam, das so ruhig und leise war, wie Geesche es nie erlebt hatte. In diese bleierne Stille war Marinus Rodenberg eingedrungen. Gerade an dem Tag, an dem Geesche müde von einer schweren Geburt zurückkehrte. Fünfzehn Stunden hatte sie gedauert, bis sie der erschöpften Mutter endlich einen gesunden Jungen in die Arme legen konnte.
Die Sonne war gerade aufgegangen, als sie sich auf den Heimweg machte. So müde sie auch war, die Erleichterung und die Freude über das glückliche Ende der Geburt gaben ihr Kraft. Während sie sonst den Abschnitt der Gleise mied, an dem Andrees zu Tode gekommen war, verzichtete sie diesmal auf den Umweg, den sie noch auf dem Hinweg gemacht hatte. Und dann war sie sogar stehen geblieben und hatte sich umgesehen, als könnte ihr dieser Ort verraten, wie Andrees gestorben war. Niemand hatte es ihr sagen können. Was sie erfuhr, war nur, dass er mit einer schweren Verletzung aufgefunden worden war, wahrscheinlich von einer Spitzhacke, die ihn so viel Blut gekostet hatte, dass er starb, noch ehe man eine Trage für den Transport nach Westerland zusammengebaut hatte.
Am Abend nach der Sturmnacht hatte Geesche vergeblich auf ihn gewartet. Er musste doch kommen und nach ihr sehen! Nach diesem verheerenden Sturm hatte sich jeder nicht nur um das eigene Dach über dem Kopf gekümmert, sondern auch um das Dach des Nachbarn, der Verwandten. Aber Andrees war nicht gekommen. Ausgerechnet an jenem Abend ließ er sie warten! Und am nächsten Morgen hatte sie erfahren, das er niemalsmehr kommen würde. Es war zu spät! Und was sie getan hatte, war umsonst gewesen …
Gerade an dieser Stelle und zu dieser Stunde, als sie, berührt sowohl von der Vergangenheit als auch von der Gegenwart, einmal nicht vor den Erinnerungen davongelaufen war, stand plötzlich Marinus Rodenberg
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