Hebamme von Sylt
vor ihr. Groß, breit, stark, urwüchsig, in robusten Lederhosen mit breiten Trägern und einem karierten Hemd, mit allerlei technischem Gerät beladen und sehr erstaunt, zu dieser frühen Morgenstunde jemanden an seinem Arbeitsplatz vorzufinden, an dem er sich mutterseelenallein geglaubt hatte.
Eine wunderbare Zeit begann an diesem Morgen. Sie dauerte knapp drei Tage und blieb dann noch drei Wochen lang zu schön, um sie zu beenden, obwohl Geesche nach den ersten drei Tagen erkannt hatte, dass ihre spontan erweckten Gefühle für Marinus keine Zukunft haben konnten. Das wurde ihr klar, als sie ihn zufällig im eleganten hellgrauen Anzug in Gesellschaft von Graf Arndt sah und erfuhr, dass er zur Familie von Zederlitz gehörte. Schlimm genug, dass der Graf mit Frau und Tochter jeden Sommer auf die Insel kam! Schlimm genug, dass Geesche dadurch niemals vergessen konnte, was in der Sturmnacht vor fünfzehn Jahren geschehen war! Aber wenn der Sommer vorbei war, wollte sie den Namen Zederlitz bis zum nächsten Jahr weder hören noch aussprechen und an ihn erinnert werden. Und sie hoffte Jahr für Jahr aufs Neue, dass der Graf sein Haus auf Sylt aufgeben und endgültig aus ihrem Leben verschwinden würde.
Marinus konnte sie nicht verstehen. Was er einzusehen glaubte, hatte zwar mit der Wahrheit nichts zu tun, aber Geesche beließ es dabei. »Ich bin nicht vornehmer als du. Mein Halbbruder ist ein Graf, ich bin nur der Bankert eines Dienstmädchens.«
Sie versuchte, ihn trotzig anzublicken. »Gleichwohl! Dein Vater war ein adeliger Herr!«
Marinus sah ihr daraufhin lange in die Augen, als ginge ihm etwas durch den Kopf, was der Wahrheit nahekam. »Was steckt wirklich dahinter, Geesche?« Nun entstand in seinem Blick sogar etwas, von dem Geesche sich für einen schrecklichen Moment durchschaut fühlte.
»Ich bin nur eine Hebamme.« Als sie das sagte, hatte sie das Gesicht fest an seine Brust gedrückt, damit er ihre Augen nicht sehen konnte. »Nicht gut genug für dich.«
Dabei war sie geblieben, bis Marinus die Insel wieder verlassen hatte. Sie würde ihn nie wiedersehen, er würde niemals den wahren Grund erfahren. Dankbar wollte sie sein für die Zeit, in der sie noch einmal die Liebe genossen hatte, in der das Leben leicht gewesen war, in der die Erinnerungen heller geworden waren, von der Gegenwart abrückten und die Zukunft nicht mehr vereinnahmten. Geesche rechnete nicht damit, dass es eine solche Zeit noch einmal geben würde, umso kostbarer war diese Zeit für sie und die Erinnerung daran, die sie einen ganzen Winter lang warm gehalten hatte. Sie war nun Ende dreißig. Eine Frau in ihrem Alter hatte sich mit dem Leben abzufinden, so, wie es war. Aus eigenen Kräften etwas zu verändern, das würde sie nicht noch einmal versuchen, und die Chancen, an der Seite eines Mannes einen anderen Weg einzuschlagen, waren vorbei. Darüber durfte sie sich nicht beklagen. Sie hatte ein Haus und eine Arbeit, und wenn der Fremdenverkehr auf Sylt tatsächlich einsetzte und sie ihre Zimmer jeden Sommer vermieten konnte, würde sie niemals zu hungern brauchen.
Geesche löste sich von dem Fenster, durch das sie Hanna nachgeblickt hatte, die längst nicht mehr zu sehen war. Marinus Rodenberg kam also auf die Insel zurück! Was hatte das zu bedeuten?
II.
Graf Arndt von Zederlitz betrachtete seine Frau nachdenklich, die mit geschlossenen Augen dasaß, als wäre es ihr gleichgültig, dass sie zum ersten Mal die Bequemlichkeit der Inselbahn genießen konnte, und als interessierte sie der Ort nicht, dem sie entgegenfuhren. Ihr schönes schmales Gesicht war angespannt, die Lippen hatte sie aufeinandergepresst, die Stirn war leicht gekraust. Sie trug ein helles Reisekleid, das die Fahrt nach Sylt ohne einen einzigen Fleck überstanden hatte, darüber eine Stola aus fast schwarzem Nerz, die sie mit der linken Hand über der Brust zusammenhielt, während die rechte in ihrem Schoß lag. Ihre Haltung drückte das aus, was Graf Arndt schon im ersten Augenblick angezogen hatte, als er sie kennenlernte. Diese vornehme Teilnahmslosigkeit, mit der sie dem Leben begegnete, allen positiven Lebensumständen genauso wie den Schicksalsschlägen. Nach wie vor bewunderte er ihr Phlegma, das einen Teil ihrer Schönheit ausmachte, ihr unbewegtes Gesicht, ihren unerschütterlichen Blick, ihre Stimme, die immer leise und gleichgültig blieb, ihr Lächeln, das nie zu einem Lachen wurde. Seit er sie liebte, versuchte er, ihr Lachen zu wecken, ihre Liebe
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