Hebamme von Sylt
seiner Angehörigen, vor allem Elisas. So glücklich er war, eine gesunde Tochter zu haben, so konnte er doch nicht die Geburten vergessen, die vorangegangen waren, die toten Säuglinge, die schnell weggeschafft werden mussten, damitGräfin Katerina sie nicht zu sehen bekam. Und all jene Hoffnungen, die schon nach wenigen Wochen oder Monaten begraben werden mussten, konnte er auch nicht vergessen. Seine Frau hatte tatsächlich all das Leid abgestreift, als er ihr die gesunde Tochter in den Arm legte, er aber würde niemals vergessen können, was alles hatte geschehen müssen, bevor Katerina endlich so glücklich war, wie er sie sehen wollte, seit er sie geheiratet hatte. Und deshalb schaffte er es nicht, ein Glück zu bejubeln, das erst am Ende von so viel Leid aufgeblüht war.
Sein Bruder Marinus stieß ihn an und riss ihn aus seinen Gedanken. »Ist das nicht großartig? Die Fahrt dauert nicht einmal eine Viertelstunde! Und wir sitzen ganz bequem und haben es sogar warm. Oder hast du etwa vergessen, wie wir in den vergangenen Jahren in den Pferdegespannen durchgerüttelt wurden?«
Graf Arndt lächelte über Marinus’ Begeisterung. »Du hast recht, die Inselbahn ist erheblich bequemer. Du kannst stolz darauf sein, daran mitgearbeitet zu haben.«
Marinus wehrte bescheiden ab, dennoch war es nicht zu übersehen, dass sein Bruder ins Schwarze getroffen hatte. Marinus Rodenberg strahlte vor Stolz, weil er mit seiner Arbeit als Ingenieur einen wesentlichen Beitrag zur Inbetriebnahme der Inselbahn geleistet hatte.
Er rückte näher zu seinem Bruder heran und senkte die Stimme. »Sag mal, Arndt … was weißt du eigentlich von der Hebamme?« Zum ersten Mal sprach er das aus, von dem alle wussten, wie sehr es ihn beschäftigte. »Du warst doch im Winter einmal auf der Insel, um nach dem Haus zu sehen. Bist du ihr bei dieser Gelegenheit begegnet?«
Arndt schüttelte den Kopf. »Aber mir ist auch nicht zu Ohren gekommen, dass sie geheiratet hat, falls es das ist, was dir keine Ruhe lässt.«
Marinus wurde so verlegen, als hätte er tatsächlich nicht damit gerechnet, durchschaut worden zu sein. Er war ein großer,kräftiger Mann, gerade vierzig geworden, vier Jahre jünger als sein Halbbruder Arndt. Marinus’ Mutter war Dienstmädchen bei Arndts Eltern gewesen und von seinem Vater geschwängert worden. Doch die junge Frau hatte Glück im Unglück gehabt. Der alte Graf von Zederlitz stand zu seiner Verantwortung, erkannte Marinus als Sohn an und ließ seine Mutter weiterhin im Hause arbeiten. Eine außergewöhnliche Güte, die nur diesem einen Dienstmädchen zuteilwurde, obwohl es nicht das Einzige war, das zur damaligen Zeit ein Kind bekam, dessen Vater als unbekannt galt. Marinus’ Mutter hatte dem Vater ihres Kindes anscheinend etwas bedeutet, anders als die jungen Mütter, deren Namen er kaum kannte. Sogar Arndts hartherzige und hochmütige Mutter, die ihren Mann seit gut zwanzig Jahren überlebte, hatte schließlich nachgeben müssen und Marinus’ Stellung als Sohn ihres Mannes akzeptiert. So waren Graf Arndt von Zederlitz und Marinus Rodenberg gemeinsam aufgewachsen und erzogen worden und einander sehr zugetan. Als Marinus im letzten Sommer Dr. Pollacseks Angebot angenommen hatte, an der Fertigstellung der Inselbahn mitzuwirken, war es von vornherein selbstverständlich gewesen, dass er mit Arndts Familie in dem Haus vor den Dünen leben würde. Und in diesem Sommer würde es genauso sein. Es gab noch viel zu tun an der Ostbahn und bereits einiges zu planen für die Südbahn, von der Dr. Pollacsek träumte, so dass Marinus’ Mitwirkung weiterhin erwünscht war. Arndt wusste, dass sein Halbbruder ein viel besseres Angebot aus Paris bekommen hatte, aber Marinus hatte sich trotzdem entschlossen, den Sommer mit seinem Halbbruder und dessen Familie auf Sylt zu verbringen. Und es gab niemanden, der nicht wusste, warum.
Nun wurden auch Katerina und Elisa auf das Gespräch aufmerksam. Elisa, die großes Interesse an romantischen Liebesgeschichten hatte, mischte sich lebhaft ein. »Hanna hat mir von der Hebamme erzählt. Damals war sie verlobt.« Ihr hübschesGesicht mit den rosigen Wangen und den tanzenden Grübchen darin, das sich zum Bedauern ihrer Mutter so gar nicht für den vornehmen Überdruss eignete, der in Adelskreisen zum guten Ton gehörte, strahlte. »Kurz nach meiner Geburt, nur ein oder zwei Tage später, ist ihr Verlobter tödlich verunglückt. Hanna sagt, es wäre von Selbstmord die Rede
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