Hebamme von Sylt
und ihre Leidenschaft herauszufordern. Und wenn es ihn enttäuschte, weil es ihm nie gelang, war er im nächsten Augenblick froh darüber. Er wusste nicht, was aus seiner Liebe geworden wäre, wenn Katerina sie leidenschaftlich erwiderte, wenn sie ihn fröhlich anlachen oder gar heimlich über einen Scherz kichern würde.
Er löste den Blick von seiner Frau und sah aus dem Fenster des Zugabteils, als wollte er in Ruhe darüber nachdenken, wie der Sommer dieses Jahres verlaufen sollte. So wie immer? Viel Muße, Strandspaziergänge, Baden im Meer? War das wirklich genug? Reichte es, dass er Katerina Jahr für Jahr zur Flucht aus ihrem Leben auf dem Gut verhalf, auf dem seine Mutter herrschte? Hatte Sylt nicht längst seine Schuldigkeit getan?Mittlerweile glaubte er, dass es besser wäre, Katerina dabei zu helfen, sich gegen seine Mutter zu behaupten, statt jeden Sommer aufs Neue vor ihr zu fliehen. Elisa war nun sechzehn Jahre alt! Sie musste in die Gesellschaft eingeführt werden, musste Einladungen annehmen, reisen, sich präsentieren. Auf Sylt war sie zwar geboren, aber hier würde sich ihr Schicksal nicht erfüllen. Als Tochter des Grafen von Zederlitz gehörte sie dorthin, wo Bälle veranstaltet wurden, wo der Adel sich traf.
Dieser eine Sommer noch, sagte er sich, dann musste es vorbei sein mit Sylt. Dann würde er das Haus vor den Dünen verkaufen und von Katerina erwarten müssen, dass sie seine Mutter und ihre drakonische Herrschaft ertrug. Seine Frau wollte es zwar nicht einsehen, aber ihre Schwiegermutter war längst in einem Alter, in dem man sie mit der Verantwortung für das Gut nicht mehr allein lassen durfte. Und seit Katerina ihre Erwartungen erfüllt und ein gesundes Kind zur Welt gebracht hatte, war es weniger geworden mit den hässlichen Bemerkungen und den verächtlichen Fragen. Nun richteten sie sich nur noch auf den fehlenden Sohn, den Erben, auf den Arndts Mutter nicht mehr hoffen konnte.
Ja, nun würde es an ihm sein, Erwartungen an seine Frau zu richten. Berechtigte Erwartungen! Katerina konnte sich nicht für den Rest ihres Lebens auf Sylt vor ihren Pflichten verstecken! Aber wie sollte er ihr das klarmachen? Wo doch bewiesen war, dass Sylt ihr guttat! Schließlich hatte sie hier ein gesundes Kind zur Welt gebracht! Katerina, die auf dem Gut unglücklich war, solange die alte Gräfin lebte, würde nichts davon hören wollen, dass es mit den Reisen nach Sylt ein Ende haben sollte. Schon dass Graf Arndt in diesem Jahr darauf bestanden hatte, den Frühling noch auf dem Gut zu verleben, hatte seine Frau aufgebracht. Aber er war entschlossen gewesen, den Aufenthalt auf der Insel zu verkürzen, damit Katerina sich allmählich daran gewöhnte, Sylt zu entsagen.
Er starrte über die braune Heide und vermied es, den Blickin den Himmel schweifen zu lassen, der über Sylt viel größer, höher und weiter war als über seinem Gut. Sobald er Sylt betrat, fühlte er sich, als würde er auf der flachen Hand der Schöpfung dem Himmel hingehalten. Dieses Gefühl erzeugte in ihm eine Bescheidenheit, die er immer wieder aufs Neue genoss. Dass sein Leben auf Sylt alles andere als bescheiden war, spielte dabei keine Rolle.
Er rieb sich die Augen, als hätte er gegen die Müdigkeit anzukämpfen, in Wirklichkeit wollte er damit seinen Blick verbergen, wie er es immer tat, wenn Westerland in Sicht kam. Aber wie in den Jahren zuvor nahm Katerina auch diesmal keine Notiz. Sie konnte nicht ahnen, dass er Sommer für Sommer mit gemischten Gefühlen auf die Insel kam, gleichermaßen angezogen wie abgestoßen von dem Leben, das ihn auf Sylt erwartete.
In diesem Jahr strafte Katerina ihn sogar mit Verachtung. Schon seit sie von zu Hause aufgebrochen waren, blickte sie vorwurfsvoll an ihm vorbei. Sie verübelte ihm schwer, dass er einerseits auf einer verspäteten Abreise bestanden hatte, dann aber nicht bereit gewesen war, die Reise nach Sylt um ein paar weitere Tage zu verschieben, damit Elisa ihren Geburtstag auf dem Gut feiern und ihre Mutter die Gelegenheit nutzen konnte, den Spross einer befreundeten Familie einzuladen, der für Elisa als Ehemann in Frage kam. Der junge Baron hatte sich zufällig in der Nähe des Gutes Zederlitz aufgehalten, und der sechzehnte Geburtstag der einzigen Tochter wäre nach Ansicht der Mutter ein geeigneter Anlass gewesen, die beiden jungen Leute miteinander bekannt zu machen. Das aber hatte Graf Arndt verhindert!
Ihm waren Geburtstagsfeiern verhasst, seine eigenen und auch die
Weitere Kostenlose Bücher