Hebamme von Sylt
sich von ihm zu befreien. Aber seine Sorge, dass sie sich zu etwas hinreißen ließ, was sie später bitter zu bereuen hätte, war so groß, dass er sie zur Küchentür zerrte, ohne auf ihre Behinderung Rücksicht zu nehmen. »Komm, Hanna! Wir gehen!«
Wie Ebbo erwartet hatte, war Freda heilfroh, dass er das Heft in die Hand nahm und dafür sorgte, dass das Unglück nicht noch größer wurde. Er hörte noch, wie sie sagte: »Ich mache Ihnen einen Tee, Herr Doktor, damit Sie gut schlafen können. Und morgen früh bin ich pünktlich da, um Ihnen das Frühstück zu bereiten.«
Ebbo schloss die Tür und stieß Hanna vor sich her. Mit ihrem anfänglichen Widerstand war es schon an der Haustür vorbei. Als sie in die Dunkelheit hinaustraten, hörte Ebbo auf, Hanna zu drängen, und als sie auf dem Weg waren, ließ er ihr den eigenen Rhythmus und zwang sich, langsam neben ihr herzugehen.
»Stimmt es, was Dr. Nissen gesagt hat? Hast du das Geld gestohlen?«
»Nein!« Nur dieses eine Wort, mehr wollte Hanna dazu nicht sagen.
»Und dass du um Dr. Pollacsek Haus geschlichen bist? Stimmt das?«
»Und wenn schon!«
»Was ist mit seiner Vermutung, du hättest das Geld schon vorher in der Truhe entdeckt?«
»Woher sollte Geesche so viel Geld haben?«
Auf diese Frage wusste Ebbo keine Antwort. »Dann sag mir nur noch eins, Hanna! Wie konnte der Fürst von Nassau-Weilburg uns gestern in flagranti erwischen? Wo warst du? Warum hast du uns nicht gewarnt?«
Hanna zuckte mit den Schultern. »Ich musste Wasser lassen. Ganz dringend! Sollte mich jemand dabei sehen? Ich konnte ja nicht ahnen, dass ausgerechnet in diesem Moment der Fürst auftaucht.« Sie blieb stehen und sah forschend in Ebbos Gesicht. »Oder glaubst du mir etwa nicht?«
Ebbo betrachtete seine Schwester, das schmale Gesicht, die kleinen Augen, dann fühlte er sich nicht mehr wohl unter ihrem scharfen Blick und nickte. »Doch, natürlich …«
»Dann lass uns weitergehen«, drängte Hanna.
Aber Ebbo bewegte ihre Frage noch in seinem Kopf. Glaubte er ihr nicht? Obwohl er Hanna eine Antwort gegeben hatte, ließ die Frage ihn noch nicht in Ruhe. Er drehte sich zu Geesches Haus um, als könnte er dort eine Antwort finden, die auch ihn zufriedenstellte. Hatte Hanna sich einfach in die Sonne gelegt und ihn der Gefahr überlassen? Er traute es ihr zu. Ja, das tat er wirklich.
Marinus stand am Fenster seines Zimmers, sah hinaus und lauschte. Noch war das Pferdegetrappel nicht zu hören, das Rufen des Kutschers nicht, auch nicht das Rumpeln der großen Räder, wenn die Kutsche über den holprigen Weg auf das Haus zufuhr.
Marinus fühlte sich unwohl. Er wollte nicht warten, wusste aber, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Er wollte nicht einmal in diesem Hause sein, aber auch hier blieb ihm nichts anderes übrig. Dr. Pollacsek hatte den Lohn nicht ausgezahlt, und sein Erspartes hatte er Freda Boyken gebracht. Er musste froh sein, im Hause seines Bruders wohnen zu dürfen, für ein Zimmer in einem der Gästehäuser hatte er kein Geld.
Von irgendwo her kam Gekicher. Die Dienstmädchen warteten ebenfalls auf die Rückkehr der Familie, damit sie Katerina und Elisa aus den Kleidern helfen, die Frisuren lösen und die Haare bürsten konnten. Währenddessen würde Zeit sein, mit Arndt zu reden.
Zwei Männer steuerten auf das Haus zu. Beide schwankten sie leicht, als hätten sie den Abend in einem Wirtshaus verbracht. Als sie sich dem Lichtkegel der Sturmlaterne näherten, erkannte Marinus den Gärtner, der in Begleitung eines Mannes war, den Marinus noch nie gesehen hatte. Beide verschwanden hinter dem Haus, wo es eine kleine Laube gab, in der Okko während der Sommermonate lebte, solange er für die Familie von Zederlitz arbeitete. Anscheinend wollte er seinen Zechkumpanendort übernachten lassen. Hoffentlich ließ er sich nicht erwischen. Arndt und Katerina waren sicherlich nicht damit einverstanden, dass Fremde sich auf ihrem Grundstück aufhielten.
Die wenigen Augenblicke, in denen seine Gedanken abgeschweift waren, reichten aus, um sich nun von den Geräuschen der Kutsche überraschen zu lassen. Marinus löste sich vom Fenster und trat einen Schritt zurück. Arndt sollte nicht wissen, dass er auf ihn wartete. Warten war Schwäche. Und er wollte seinem Bruder keine Schwäche zeigen.
Als er Arndts Zimmer betrat, fühlte er sich stark genug für die Forderungen, die er an seinen Bruder stellen wollte. Und die Überraschung, die sich auf Arndts Gesicht ausbreitete,
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