Hebamme von Sylt
davorstand.
Dr. Nissen kehrte als Erster aus der Welt der schweren Gedanken zurück. »Ich werde Sie bezahlen, wie Geesche es getan hat«, sagte er zu Freda, obwohl er es schon einmal zugesichert hatte.
Und auch diesmal antwortete Freda mit dem dankbaren Blick, den Geesche ebenfalls für jede Zuwendung erhalten hatte. Es war die einzige Münze, mit der Freda bezahlen konnte.
Ebbo hätte es gerne gesehen, dass auch Hanna ihre Dankbarkeit zeigte, aber sie sah nicht einmal auf. Erst als Dr. Nissen sie ansprach, hob sie den Blick, und er war keineswegs freundlich.
Ebbo stockte der Atem, als Dr. Nissen fragte: »Kann es sein, dass du die Diebin bist, Hanna? Ich weiß doch, dass du oft um Dr. Pollacseks Haus geschlichen bist.«
Freda fuhr in die Höhe. »Wie oft habe ich dir gesagt …?«
Aber Dr. Nissen brachte sie mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen. Er nahm den Blick nicht von Hannas Gesicht, als er weiter fragte: »Und nach dem Diebstahl hast du behauptet, das Geld in Geesches Truhe gefunden zu haben?«
Ebbo sah, dass Fredas Hände sich öffneten, als wollte sie nach Hanna greifen und sie schlagen. Diesmal hätte er nichtsgetan, um Hanna zu schützen. Für ihr spöttisches Grinsen hatte sie wirklich eine Ohrfeige verdient.
»Geld stehlen und es dann zurückgeben?«, fragte sie. »Was hätte das für einen Sinn?«
»Du hast nicht alles zurückgegeben, es fehlen mehrere hundert Mark. Der Inselvogt glaubt, dass Geesche Schulden damit bezahlt hat. Aber du hast dir vielleicht gesagt, dass du das ganze Geld sowieso nicht verbrauchen könntest. Es würde auffallen, wenn du plötzlich viel Geld hast. Und wo solltest du es verstecken? Ein paar hundert Mark dagegen … damit lässt sich einiges machen, wenn man vorsichtig ist und erst mal Gras über die Sache wachsen lässt.«
»Stimmt das, Hanna?«, fragte Ebbo entgeistert.
Seine Schwester antwortete, ohne aufzusehen: »Dann hätte ich nur ein paar hundert Mark aus dem Tresor genommen und nicht alles.«
Aber Dr. Nissen fuhr unbeirrt fort: »Du hast etwas für deinen Ruf getan. Der Inselvogt weiß sicherlich zu schätzen, dass du das Geld abgegeben hast.«
»Stimmt«, sagte Hanna und sah Dr. Nissen herausfordernd an.
Nun wurde es Ebbo zu bunt. »Hören Sie auf, meine Schwester zu verhören! Sie haben kein Recht dazu!«
Wieder versuchte Freda zu beschwichtigen, die jedes Mal von Angst gepackt wurde, wenn eins ihrer Kinder ein Recht geltend machte, das nach Fredas Meinung niemandem zustand, der so bitterarm und so auf Hilfe angewiesen war wie die Boykens.
Aber Dr. Nissen beachtete Ebbos Einwurf gar nicht. Nach wie vor ließ er Hanna nicht aus den Augen. »Wann willst du das Geld gefunden haben?«, fragte er. »In der vorletzten Nacht ist es gestohlen worden. Hattest du gestern oder heute Gelegenheit, in die Truhe zu blicken? Du hast sie sogar durchsuchen müssen! Denn sicherlich lag das Geld ganz unten auf demBoden der Truhe. Dort, wo man etwas versteckt, was niemand finden soll.«
Obwohl Ebbo Dr. Nissans Einwurf absurd fand, war er froh, dass Hanna endlich ihre großspurige Haltung aufgab, die er genauso unangemessen fand wie Freda.
»Ich habe Mäuse in der Truhe rascheln hören.«
»Wann?«
Schlagartig veränderte sich Hannas Miene wieder, und sie fauchte: »Das geht Sie nichts an!«
Aber Dr. Nissen war nach wie vor nicht aus der Ruhe zu bringen. »Wenn du das Geld nicht selber gestohlen hast, dann … hast du es vielleicht schon vor längerer Zeit in Geesches Truhe gesehen? Natürlich konntest du sie nicht danach fragen, denn Geesche hat dir oft genug gesagt, dass du nicht in ihren Sachen rumschnüffeln sollst. Und nun hast du einen Weg gefunden, Geesche damit zu schaden. Das willst du doch schon lange, oder? Geesche schaden, weil sie dich nicht so gern hat, wie du es möchtest.«
Ebbo sprang auf und griff nach Hannas Hand, um sie in die Höhe zu ziehen. »Wir gehen. Das müssen wir uns nicht länger anhören.«
Es dauerte eine Weile, bis Hanna sich vom Stuhl gewuchtet hatte. Zeit genug für Dr. Nissen zu ergänzen: »Ich weiß, dass du Geesche hasst. Du möchtest von ihr geliebt und geachtet werden, so wie deine Mutter. Aber Geesche hat es nicht geschafft, obwohl sie sich viel Mühe gegeben hat. Manchmal kommt es mir so vor, als hättest du sie etwas weniger gehasst, wenn sie ehrlicher zu dir gewesen wäre. Wenn sie dir gezeigt hätte, dass sie dich niemals lieben und achten wird.«
Ebbo ließ Hannas Hand nicht los, obwohl sie versuchte,
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