Hebamme von Sylt
als sich die Tür öffnete, machte ihn noch ein bisschen stärker.
»Ich hatte geglaubt, du übernachtest woanders«, sagte Arndt. Er hatte sich gerade das Hemd aufgeknöpft und schloss es nun wieder, als käme es darauf an, für den Besuch seines Bruders korrekt gekleidet zu sein.
»War das Dinner sehr langweilig?«, fragte Marinus und setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.
»Nicht langweiliger als andere.« Arndt ging zur Tür. »Soll ich uns etwas zu trinken kommen lassen?«
Aber Marinus winkte ab. »Lass die Dienstmädchen bei den Damen. Katerina sollte nicht mitbekommen, dass wir etwas zu bereden haben.«
Arndt löste sich von der Tür und kam zu Marinus. Ratlos sah er sich um, da sein Bruder sich auf den einzigen Stuhl gesetzt hatte, auf den Graf Arndt seine Kleidung zu legen pflegte, bevor er zu Bett ging. Dann hockte er sich auf die Bettkante, erhob sich aber gleich darauf wieder. »Lass uns nach draußen gehen«, schlug er vor. »Die Luft ist angenehm. Und im Garten sind wir allein.«
Marinus war einverstanden. In schweigender Übereinstimmung gingen sie zu der Bank, die in der Nähe der Heckestand, die den Teil des Grundstücks umgab, der an den Weg grenzte. Sie lag im Schatten des Mondes, niemand würde sie hier sehen.
Arndt sah besorgt zu den Fenstern hoch, hinter denen noch Licht brannte. Aber als er feststellte, dass sie geschlossen waren, lehnte er sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich kann mir denken, worüber du mit mir reden willst.«
»Alles ist noch schlimmer geworden«, sagte Marinus heftig.
»Ich weiß. Geesche Jensen wurde verhaftet.«
»Was ich dir heute Morgen gesagt habe, gilt nun erst recht. Du musst mit der Wahrheit heraus!«
Graf Arndt blieb reglos sitzen. So, als wartete er darauf, dass Marinus zu der Erkenntnis kam, die er selbst für richtig hielt.
»Du musst!« Marinus’ Stimme wurde lauter und schärfer. »Du kannst nicht zulassen, dass Geesche für ein Verbrechen bestraft wird, das sie nicht begangen hat.«
»Ich hoffe, dass der wahre Dieb gefunden wird. Dann ist sie rehabilitiert.«
»Wie soll er gefunden werden? Es sucht ja niemand mehr nach ihm. Heye Buuß ist sich seiner Sache sicher!«
Arndts Stimme klang gequält. »Alle Vorwürfe, die du mir machst, gehen mir selbst durch den Sinn. Glaub mir, Marinus, es geht mir nicht darum, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich bin auch nicht zu feige, um mich zu meiner Schuld zu bekennen …«
»Aber?«
»Wenn ich zugebe, woher Geesche Jensen das Geld hat, dann muss ich zugeben, was ich getan habe.«
»Das ist genau das, was ich von dir verlange!« Marinus schaffte es nicht mehr, sich zu beherrschen, obwohl er sich vorgenommen hatte, stark zu bleiben und nichts von seiner Schwäche zu verraten, indem er Arndt anschrie. »Diese Schuld muss gesühnt werden!«
Nun hörte sich die Stimme des Grafen schwach und kraftlosan. »Vielleicht gesteht sie selbst, woher das Geld stammt. Wenn sie es im Gefängnis nicht mehr aushält …«
»Sie wird es nicht tun«, unterbrach Marinus, ohne nachzudenken, und verriet damit, dass er schon selbst über diese Möglichkeit nachgedacht hatte.
Graf Arndt griff nach dem rettenden Strohhalm. »Und warum wird sie es nicht tun? Weil sie weiß, dass sie damit das Unglück noch größer macht. Wie sollen Elisa und Hanna die Wahrheit ertragen? Und Katerina?«
Marinus merkte, dass er sich auf seine Stärke nicht mehr verlassen konnte. Wer aus seiner Schwäche eine Stärke machen wollte, gab ihr eben nur ein neues Gesicht, eine Maske, hinter der er genauso schwach war wie vorher. Er musste sich wohl zu dieser Schwäche bekennen. Es gab eine Gerechtigkeit, die grausamer war als ein Unrecht. Marinus hatte den Tag damit verbracht, sich Elisa in der Kate von Freda Boyken vorzustellen, Hanna in Katerinas Armen, Elisas Unglück, Hannas Hass, Freda Boykens Verbitterung, Katerinas Verzweiflung. Er hatte am Strand gestanden und in den Wind geschrien vor Wut und Abscheu, aber er hatte sich nicht besser gefühlt. Sein Bruder hatte Schicksal gespielt, hatte Gott ins Handwerk gepfuscht, hatte das Glück gezwungen, das Unglück verachtet und stellte dennoch das Recht an seine Seite! Und er, Marinus, war nicht fähig, daran etwas zu ändern. So furchtbar es war: Nach sechzehn Jahren war die Wahrheit grausamer als die Lüge geworden.
Marinus zuckte zusammen, als an Katerinas Fenster der Riegel bewegt wurde. Erschrocken blickte er hoch und fragte flüsternd: »War das Fester
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