Hebamme von Sylt
gewesen.«
Die Gräfin meldete sich ungehalten zu Wort: »Was gehen uns die Probleme dieser Leute an?«
Aber Elisa war nicht aufzuhalten. Dass Marinus ihr aufmerksam zuhörte, machte ihr Mut. »Er hatte sich ein eigenes Fischerboot gewünscht, aber er hatte kein Geld. Deswegen hat er für die Inselbahn gearbeitet und darauf gehofft, dass er irgendwann das Boot seines Vaters erbt. Aber in dieser Sturmnacht, in der ich geboren wurde, ist sein Vater umgekommen. Genau wie Hannas Vater!« Elisa verlieh ihrem Gesicht nun einen dramatischen Ausdruck. »Als er keine Aussicht mehr auf ein eigenes Boot hatte, wollte der Verlobte der Hebamme nicht mehr leben, hat Hanna gesagt.«
»Hanna!« Gräfin Katerina zog die Mundwinkel herab. »Wir sollten uns um passende Gesellschaft für unsere Tochter bemühen.« Sie sah ihren Mann herausfordernd an, der ihren Blick dankbar erwiderte. Dankbar, weil sie zum ersten Mal an diesem Tag das Wort an ihn richtete, und ebenso dankbar, weil er nichts entgegnen musste. Denn in diesem Augenblick kreischten die Bremsen der Inselbahn, der Zug kam vor dem Conversationshaus Westerlands zum Stehen. Dass Elisa einen langen Hals machte und ihre Blicke die Menschenmenge absuchten, die die Inselbahn erwartete, bemerkte niemand. Auch dass sie heimlich lachte und winkte, fiel weder ihrem Vater noch ihrer Mutter auf. Nur Marinus Rodenberg beobachtete sie mit einem kleinen verständnisvollen Lächeln.
Geesche hatte sich an diesem Tag vorgenommen, die Wäsche zu erledigen. Freda hatte am Vortag gewaschen, nun musstendie Laken, Bettbezüge und Handtücher geglättet und gefaltet werden.
Wie immer, wenn sie ihr Mangelbrett vom Haken nahm, zögerte sie und betrachtete es eine Weile, ehe sie damit zu arbeiten begann. Es war ein besonders schönes Mangelbrett, das Andrees für sie gefertigt hatte. Sein Geschenk zu ihrer Verlobung! Einen ganzen Winter hatte er daran geschnitzt und ihm sogar einen Griff in Form eines Pferdekopfes aufgesetzt. Wenn sie es nicht benutzte, hing es an der Wand, die schönste Zier ihrer Küche.
Geesche wickelte das erste Laken fest um ihr Mangelholz und begann mit der mühsamen Arbeit des Glättens, indem sie das Mangelbrett mit aller Kraft über das Mangelholz zog. Mit ihrem ganzen Gewicht stützte sie sich auf das Mangelbrett und rollte damit das Mangelholz so lange hin und her, bis das erste Laken glatt war und säuberlich gefaltet werden konnte.
Tief atmete sie durch, ehe sie die Arbeit fortsetzte. Sechzehn Jahre war es nun her! Eine Zeit, in der zwei junge Frauen erwachsen geworden waren und sie selbst in ein Alter eingetreten war, hinter dem die Schwelle zum Lebensabend stand! Doch sie hatte noch immer das Wüten des Sturms in den Ohren, das Bild des toten Jens Boyken vor den Augen und das vergebliche Warten auf ihren Verlobten in ihrem Herzen. Wann würde das endlich aufhören?
»Andrees, warum hast du dir nicht helfen lassen?« Wäre er am nächsten Tag zu ihr gekommen – er wäre zu retten gewesen. »Warum hast du nicht mit mir geredet?«
Als das letzte Laken an der Reihe war, klopfte es an ihrer Tür. Geesche legte das Mangelholz zur Seite. Freda? Nein, Fredas Klopfen war immer so leise, dass Geesche es häufig überhörte. Dieses Pochen aber war laut und kräftig. Wieder und wieder klopfte es an ihrer Tür, immer lauter und kräftiger! Ungeduldig, fordernd!
Als Geesche in den Flur trat, ahnte sie bereits, wem sie öffnenwürde. Und noch während sie die Türklinke herunterdrückte, wusste sie nicht, ob sie zögerte, weil sie voller Angst oder voller Hoffnung war. Doch als die Tür sich öffnete, entschied es sich von selbst. Marinus Rodenberg stand vor ihr. Und sie wusste, dass sein Anblick sie glücklich machte.
»Geesche! Du wunderst dich gar nicht, mich zu sehen?«
Sein Gesicht lachte, seine dunklen Augen leuchteten, die Freude, die er ausstrahlte, war ihm einen Schritt voraus und hatte Geesche schon umarmt, bevor er auf sie zutrat und nach ihr griff.
Dankbar schmiegte sie sich in seine Arme, sog den Geruch seiner Haut ein, genoss die starken Arme, den Druck seiner Hände, die leidenschaftlich, aber nicht fordernd waren, stark, aber nicht drängend. So waren auch einmal Andrees’ Arme gewesen. In diesem Augenblick schoss die Erkenntnis wie eine Flamme durch ihren Körper, dass sie nicht bemerkt hatte, wie seine Umarmungen immer schwächer, immer kraftloser geworden waren. Andrees hatte sie in den letzten Tagen seines Lebens schnell wieder freigegeben, hatte
Weitere Kostenlose Bücher