Hebamme von Sylt
Empörung und Angst. »Ich will zu der Hebamme«, weinte sie, aber ihre Stimme war schon voller Resignation. Und als Dr. Nissen ihr aus dem Kleid half, machte sie keinen Versuch mehr, ihr Schicksal abzulehnen.
»Wo ist der Vater deines Kindes?«, fragte er. »Warum ist er nicht bei dir?«
»Weg«, stöhnte sie. »Einfach weg und nicht wiedergekommen. Vielleicht ist er tot, ich weiß es nicht.«
»Hast du keine Familie?«
»Drüben auf Föhr. Ich habe sie lange nicht gesehen.«
Die Geburt verlief unproblematisch. Schon bald setzten die Presswehen ein, und obwohl Fenna schwach und unterernährt war, schaffte sie es, ihre Kräfte zu mobilisieren. Schon eine Stunde nach ihrem Erscheinen im Haus der Hebamme kam ein kleiner Junge zur Welt, kräftig und kerngesund.
Nachdem er Mutter und Kind versorgt hatte, ging Dr. Nissen in die Küche und ließ sich dort erschöpft auf einen Stuhl sinken. Fenna schlief, ihr Baby in der Wiege ebenfalls. Nun konnte auch er sich ausruhen. Tiefe Zufriedenheit durchströmte ihn. Er hatte es geschafft! Ganz allein hatte er es fertiggebracht, eine Mutter von ihrem Kind zu entbinden. Er spürte, dass die Last der Vergangenheit allmählich von ihm wich. Er hatte es ja gewusst! Er musste sich immer wieder der Geburtshilfe stellen, dann würde er irgendwann nicht mehr an die verzerrten Züge der Frau denken, an ihr Wimmern, ihr Stöhnen, ihr Röcheln. Er würde nicht mehr das wachsbleiche Gesicht sehen und die bläulich schimmernden Lider, nachdem sein Schwiegervater ihreAugen geschlossen hatte, und nicht mehr das weiße Laken, das er über die Tote breitete. Im Einschlafen und beim Aufwachen würde er von nun an vielleicht auch nicht mehr die Worte seines Schwiegervaters hören: »Du bist ein Stümper! Ein Versager!«
Die Kutsche der Königin kam an, kurz bevor der Regen einsetzte. Elisa warf einen Blick aus dem Fenster und sah, dass der Kutscher vom Bock sprang, der Königin aus dem Wagen half und einen Schirm über sie spannte, als sie auf das Haus zuging. Welche Ehre, dass Königin Elisabeth höchstpersönlich an der kleinen Verlobungsfeier teilnahm, die ihre Eltern in aller Eile organisiert hatten! Sämtlich Lebensmittelhändler Westerlands waren im Lauf des Tages in Aufruhr geraten, die Dienstboten mittlerweile am Ende ihrer Kräfte, und Gräfin Katerina stöhnte seit etwa zwei Stunden, ihre Migräne sei wohl nicht mehr abzuwenden.
Gegen Mittag war der Koch der Königin erschienen, um der Sylter Köchin zu zeigen, wie bei Hofe gekocht und gespeist wurde. Und Elisa fragte sich, ob sich die Köchin davon jemals erholen würde.
Sie spürte, dass Alexander hinter sie trat. Er griff nach ihrem Arm und drehte sie mit sanftem Nachdruck zu sich herum. »Du siehst nicht so glücklich aus, wie es sich für eine Braut gehört«, sagte er lächelnd. Aber ehe sie etwas entgegnen konnte, gab er die Antwort schon selbst: »Ich weiß, du hättest lieber einen anderen Mann an deiner Seite. Niemand versteht das besser als ich. Mir geht es ja genauso. Aber genau darin liegt unsere Chance. Wir können einander offen begegnen, brauchen uns nichts vorzumachen. Wir können ehrlich zueinander sein. Ist das nicht wunderbar?«
Elisa sah ihn aufmerksam an, betrachtete seine freundlichen Augen, das sympathische Gesicht, das warme Lächeln. »Ich werde mir Mühe gehen, es so wunderbar zu finden wie du.«
Die leuchtende Sicherheit schwand aus Alexanders Gesicht.»Du würdest dir lieber etwas vormachen lassen?« Aber schon stieg das Lächeln wieder in seine Augen. »Vergiss nicht, wie gefährlich das sein kann.« Nun blickte er an Elisas Gesicht vorbei nach draußen. Und sie konnte in seinen Augen lesen, wen er dort sah. »Wenn du willst, stelle ich ihn als Stallburschen an. Oder als Hausknecht«, flüsterte Alexander ihr ins Ohr. »Inna arbeitet seit Monaten in der Küche. Glaub mir, wir werden glücklich sein.«
Kurz bevor Königin Elisabeth den Raum betrat, drehte Elisa sich zum Fenster zurück und sah, dass Ebbo an der Mauer entlangschlich. Wahrscheinlich würde er sich irgendwo ein Plätzchen suchen, von wo aus er in den Wohnraum blicken und beobachten konnte, wie Alexander ihr den Verlobungsring ansteckte. Als Hanna in den Raum humpelte, um die Kerzen auf dem Esstisch anzuzünden, erkannte Elisa sofort, dass sie von Ebbos Anwesenheit wusste. Aber als Hanna aufblickte, verbot sie sich, einen Blick mit ihr zu wechseln. Sie nahm Alexanders Arm und ging mit ihm der Königin entgegen.
»Ich danke Ihnen,
Weitere Kostenlose Bücher