Hebamme von Sylt
ganze Haus schien zu erstarren. Der Wind heulte noch vor den Fenstern und rüttelte an den Läden, aber drinnen war nur Stille, eisige Stille.
Leonard Nissen wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte, als er sich erhob und das Buch auf das Regalbrett zurücklegte.
XVII.
Marinus machte sich keine Illusionen. Seiner Schwägerin war es durchaus recht gewesen, dass er keine Zeit hatte, der Verlobungsfeier beizuwohnen. Er hatte sich nicht einmal Mühe geben müssen, für einen guten Grund zu sorgen, mit dem er sein Fernbleiben entschuldigen konnte. Da Katerina nichts von seiner Kündigung wusste, hatte sie eifrig genickt – eine Spur zu eifrig für Marinus’ Geschmack –, als er von wichtigen Arbeiten in Dr. Pollacseks Planungsbüro gesprochen hatte. »Natürlich, die Arbeit geht vor. Mach dir keine Gedanken, Marinus.«
Er hatte es Katerina bisher noch nie übel genommen, wenn sie ihm so deutlich zeigte, dass er zwar zur Familie gehörte, aber dennoch nicht einer von ihnen war. Er hatte es akzeptiert, weil es viele andere Situationen gegeben hatte, in denen sie ihn spüren ließ, wie sehr sie ihn schätzte. An diesem Abend aber war es anders gewesen. Einerseits war er erleichtert, dass er seinen Plan nicht ändern musste, andererseits war er seit seinem Streit mit Arndt empfindlicher geworden. Es verletzte ihn, dass er für einen Besuch der Königin nicht repräsentabel genug war. Er wäre dankbar gewesen für ein kleines Zeichen, das ihm gezeigt hätte, dass er nicht nur der Bankert eines Dienstmädchens war. Und die Hilflosigkeit, unter der er litt, seit er wusste, wozu sein Bruder in seiner Liebe zu Katerina fähig war, hätte ihn weniger geschmerzt, wenn seine Schwägerin sich an diesem Abend zu ihm bekannt hätte. Arndts Bitten, an der Verlobungsfeier teilzunehmen, hatten ihm nicht genügt. Sein Bruder sollte keine Rolle mehr spielen, er hatte ihn zu sehr enttäuscht.
Als der Umriss des Gefängnisses sich aus dem Nachthimmellöste und sich schärfte, gestand er sich ein, dass seine Sehnsucht nach familiärer Zuwendung auch etwas damit zu tun hatte, dass er diesen Abend als Abschied betrachtete. Davon hatte Katerina natürlich nichts wissen können. Aber wenn er mit Geesche aufs Festland übergesetzt hatte, würde er seine Familie eine Weile nicht zu Gesicht bekommen. Gras musste erst über den Raub der Lohngelder gewachsen sein, besser noch, der wahre Dieb wurde gefasst, erst dann konnte er sich mit Geesche ein neues Leben aufbauen, zu dem auch Arndt, Katerina und Elisa gehören würden.
Nun hatte sich das Gefängnisgebäude aus der Nacht gelöst und stand, schwärzer als der Himmel, dunkler als die schlafende Insel, vor ihm. Marinus holte seine Strickmütze aus der Tasche, setzte sie auf und zog sie so tief wie möglich in die Stirn. Mit den Augen tastete er sorgfältig die Umgebung ab. Rührte sich etwas? War irgendwo eine Bewegung zu sehen? Wurde er beobachtet? Aber um ihn herum nur Schweigen und Reglosigkeit. Zwar hörte er in der Ferne das Meer lärmen, hin und wieder vernahm er am Boden das Rascheln eines Tieres, aber es gab in der Nähe nichts, was ihm verdächtig erschien. Trotzdem drückte er sich, wie er es sich vorgenommen hatte, zunächst hinter einen Busch, um abzuwarten. Eine halbe Stunde, um sich an die Farben der Nacht und an ihre Geräusche zu gewöhnen! Und dann noch ein paar Minuten, um sich einzuprägen, warum er es tat, warum er dieses Risiko einging, warum es sich lohnte. Geesche! Noch immer wog die Enttäuschung schwer, aber dass er sie nach wie vor liebte, wog schwerer. Und so groß auch die Sorge war, dass er sie mit seiner Zurückweisung so sehr verletzt hatte, dass sie nicht mehr an eine gemeinsame Zukunft glaubte, so war doch sein Wunsch noch größer, Geesche vor dem Gefängnis zu bewahren. Er würde es auch dann tun, wenn sein Einsatz ohne Lohn blieb.
Die halbe Stunde war gerade erst wenige Minuten alt, dahörte er das Geräusch, das nicht zu dieser Nacht passte. Es kam nicht vom Meer, nicht aus dem Himmel, nicht aus dem Gras zu seinen Füßen. Es war nicht in nächtlicher Stille entstanden, gehörte nicht zu ihr, war etwas, das nicht zur Nacht passte. Dieses Geräusch versteckte sich in ihr!
Marinus beugte sich vor, glaubte sich zu täuschen, machte einen Schritt auf die Eingangstür zu, dann sah er, dass sie nicht fest im Schloss saß. Sie war geöffnet. Einen schmalen Spalt! Und nun hörte er das rhythmische Stöhnen hinter dem Fenster neben der Tür, dann ein
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