Hebamme von Sylt
die verkrüppelte Hanna sich so leise fortbewegen konnte, dass niemand sie hörte.
»Ich kann ihn beschreiben!«
Der Argwohn vertiefte sich. »Obwohl es dunkel war?«
»Ich weiß, dass es kein Sylter war. Den Mann habe ich vorher nie gesehen.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher! Er ist mittelgroß und schlank.«
»Das sind viele Sylter.«
»Alles an ihm war schwarz. Seine Kleidung, seine Haare …«
»Bei Nacht sind alle Katzen grau.« Heye Buuß unterband mit einer Handbewegung, dass Hanna weitersprach. »Von einem schwarzen Mann war schon einmal die Rede. Er sollte die Lohngelder gestohlen haben. Aber dann stellte sich heraus, dass er zum Gefolge der Königin gehört und jenen Abend mit mehreren Honoratioren verbracht hat. Komm mir also nicht schon wieder mit einem schwarzen Mann.«
»Er trug einen Hut, einen sehr auffälligen Hut. Groß, mit weicher Krempe und einer Feder. Alles schwarz!«
Heye Buuß machte Anstalten, seinen Weg fortzusetzen. »Halt die Augen offen, Mädchen«, sagte er und machte keinen Hehl daraus, dass er ihr nicht glaubte. »Wenn du einen Mann mit diesem Hut siehst, kannst du noch einmal zu mir kommen.« Er winkte ihr zu und bedachte sie mit einem letzten Blick, der so spöttisch war, dass Hanna sich beinahe geärgert hätte. Aber dann sagte sie sich, dass ihr das Wichtigste gut gelungen war: Heye Buuß hatte ihr geglaubt, dass sie nur zum Haus der Hebamme gegangen war, um für Dr. Nissen Tee zu kochen. Die Comtesse würde zufrieden mit ihr sein.
Geesche wurde aus dem Schlaf gerissen, als sie Schritte hörte, die sich dem Stall näherten. Erschrocken fuhr sie von dem Strohlager hoch, das sie sich bereitet hatte, sprang zum Fenster und blickte hinaus. Hinter ihr gab es entsetztes Aufflattern und Gackern, aber zum Glück war es Freda, die auf den Stall zukam. Geesche atmete auf und schloss die Augen, um die Angst, die in ihr hochgeschossen war, wieder herunterzuwürgen. Sie hatte viel zu lange geschlafen, aber die Erschöpfung war irgendwann stärker gewesen als Angst und Schrecken. Wie betäubt war sie gewesen, als Heye Buuß, Dr. Pollacsek und Marinus ihr Grundstück verlassen hatten. Selbst die Nähe zu dem Toten hatte sie nicht wach halten können. Gegen Morgen war sie zwar immer wieder aufgeschreckt worden, vom ersten Hahnenschrei, von dem Ruf der Möwen, von Stimmen, die inder Ferne vorbeiflogen, aber jedes Mal war sie wieder zurückgesunken und augenblicklich in tiefen Schlaf gefallen.
Sie ging auf die Stalltür zu, unterdrückte aber den Wunsch, sie zu öffnen und Freda in die Arme zu fallen. Ungeduldig wartete sie, dass die Tür geöffnet wurde, und erst als Freda sie eilig wieder ins Schloss drückte, machte sie einen Schritt auf sie zu.
»Du bist also wirklich hier?«, fragte Freda.
Kurz darauf löste sie sich verlegen aus Geesches Armen. Körperliche Nähe war ihr nicht angenehm.
»Wo sollte ich sonst hin?«, fragte Geesche zurück.
Freda nickte zufrieden. »Hier wird dich niemand vermuten, und ich kann dich versorgen, ohne dass es auffällt.«
»Was ist passiert, Freda?«
Die beiden ließen sich auf umgedrehten Eimern nieder und warteten, bis das aufgeregte Flattern hinter ihnen ein Ende hatte. Freda hatte eine Menge zu erzählen. Schon am frühen Morgen hatte Ebbo sich auf den Weg gemacht und war bald mit den neuesten Meldungen nach Hause gekommen, die in Westerland bereits von Mund zu Mund gingen. »Dr. Nissen hat die Lohngelder gestohlen. Dr. Pollacsek hat es erzählt, und der Inselvogt hat es bestätigt.«
Geesche starrte kopfschüttelnd auf ihre Füße. »Aber … so was hat er nicht nötig.«
»Vielleicht doch?« Freda lächelte leicht, als sie Geesches erstaunten Blick sah. »Hanna hat mit dem Koch der Königin gesprochen. Und der hat ihr erzählt, dass Dr. Nissen ein armer Schlucker ist. Es stimmt nicht, dass er von seiner Frau betrogen wurde und daraufhin die Scheidung verlangt hat. Dr. Nissen ist von seinem Schwiegervater aus dem Haus gejagt worden! Warum? Das wusste der Koch nicht. Aber er war sicher, dass Dr. Nissen mit der Scheidung ein armer Mann geworden ist.«
Geesche schwieg eine Weile, dann flüsterte sie: »Deshalb wollte er auf Sylt bleiben.«
»Und demnächst in deinem Haus wohnen.«
»Aber wer hat ihn umgebracht?«
Freda zuckte mit den Schultern. »Hanna hat den Mann gesehen. Sie glaubt, dass es kein Sylter war.«
»Ein Feriengast?«
Darauf wusste Freda keine Antwort. »Du könntest das Versteckspielen jetzt aufgeben … wenn da
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