Hebamme von Sylt
Seite. Während sie mit ihm redete, blickte sie meist aufs Meer hinaus, trotzdem war Pollacsek sicher, dass sie sich dem Gespräch voll und ganz widmete. Es kam ihm sogar so vor, dass der wunderbare Anblick vor ihrem Fenster ihre Unterhaltung beflügelte. Das Lächeln, das nicht aus ihrer Miene wich, und die Freundlichkeit, die in ihren Augen stehen blieb, waren ihm Beweis genug. Und es gefiel ihm, dass er die Königin auf diese Weise ungeniert betrachten konnte.
Ihr helles Haar hatte sie in gleichmäßige Wellen legen und es fest an den Kopf stecken lassen. Sie trug ein hellgraues Taftkleid, das mit dunkelgrauen Längsstreifen versehen war, deren Abstände zum Saum des Rockes hin breiter wurden. Auf dem eng anliegenden Oberteil mit dem hohen Stehkragen gab es keine Abstände zwischen den dunklen Längsstreifen, sie waren in Form von Biesen aufgenäht worden und gaben dem Kleid eine strenge Note. An einer Frau von ernstem, würdevollem Aussehen hätte es gesetzt und formell gewirkt, an der Königin jedoch sah es aus wie der Versuch eines jungen Mädchens, sich die Wirkung einer reifen Frau zu verleihen.
»Ist es nicht allerliebst hier?«, fragte sie Julius Pollacsek, der sich verwirrt umsah; bisher hatte er der Einrichtung ihres Salons keine Aufmerksamkeit schenken können.
Ja, Marie Roth hatte sich große Mühe gegeben, den Raum für einen königlichen Gast herzurichten, der an Komfort gewöhntwar. Trotzdem war es ihr gelungen, ihm die Behaglichkeit zu erhalten, die die Bescheidenheit braucht. Frau Roth hatte der Versuchung widerstanden, aus diesem Raum etwas zu machen, was er niemals sein konnte, hatte sich nicht bemüht, etwas Kleines groß aussehen zu lassen. Zwar wunderte sich Pollacsek ein wenig über das Entzücken der Königin, denn sie war sicherlich an Luxus gewöhnt, andererseits machte es sie noch sympathischer, dass sie sich in dieser Umgebung wohlfühlte und die Bemühungen der Gastgeber anerkannte.
»Wenn ich auf dem Balkon stehe«, fuhr die Königin fort, »kann ich den Friedhof der Heimatlosen sehen. Wenn ich zum Strand gehe, komme ich daran vorbei. Es gefällt mir, dass die angestrandeten Toten auf Sylt einen eigenen Friedhof haben.«
Dr. Pollacsek erschrak. Hatte die Hofdame nicht gesagt, das Thema Tod sei tabu? Andererseits aber war er froh, dass die Königin ihm ein Thema vorgab, mit dem er sich auskannte, und da sie selbst es anschnitt, durfte er sicherlich darauf eingehen. »Tatsächlich war es früher so«, berichtete er, »dass die angespülten toten Seeleute einfach in der nächsten Düne verbuddelt wurden. Strandinspektor Wulf Hansen Decker hat diesem Treiben 1854 ein Ende gemacht und den Friedhof der Heimatlosen angelegt.«
Die Königin nickte interessiert und lächelte freundlich. »Die Schmucklosigkeit des Friedhofs tut mir leid«, sagte sie. Und noch bevor Pollacsek zu Rechtfertigungen ansetzen konnte, ergänzte sie: »Ich würde ihm gern einen Gedenkstein schenken. Können Sie das für mich in die Wege leiten?«
Dr. Pollacsek starrte sie sprachlos an. Welch eine Großzügigkeit! Welch eine Ehre für Westerland! »Selbstverständlich!«, stotterte er und lüftete seinen Körper leicht an, um eine Verbeugung anzudeuten. »Ganz, wie Ihre Majestät wünschen!«
»Es sollte ein großer Stein sein, groß genug für ein Gedicht, das mir sehr gut gefällt.« Wieder schickte sie den Blick auf das Meer hinaus, während sie deklamierte: »Wir sind ein Volk, vomStrom der Zeit / gespült ans Erdeneiland, / voll Sehnsucht und voll Herzeleid, / bis heim uns holt der Heiland. / Das Vaterhaus ist immer nah, / wie wechseln auch die Lose: / Es ist das Kreuz von Golgatha / Heimat für Heimatlose.« Nun sah sie Dr. Pollacsek wieder an, ihr Lächeln vertiefte sich, vermutlich, weil er immer noch dasaß und sie anstarrte wie ein kleines Wunder. »Glauben Sie, das geht?«
Pollacsek riss sich zusammen. »Selbstverständlich, Majestät! Ich werde mich sofort darum kümmern.«
»Schön. Dann können wir den Gedenkstein noch einweihen, während ich hier bin.« Übergangslos wechselte sie das Thema. »Das Ehepaar Roth ist reizend. Wussten Sie, dass der Apotheker sehr krank war, dass die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten, als er hierherzog?«
Pollacsek nickte. Das wusste er. In Westerland kannte jeder jeden, auch wenn er nicht hier geboren war so wie er selbst, und das Schicksal der Roths war ihm genauso bekannt wie allen anderen. Aber natürlich ließ er sich das nicht anmerken, sondern sah die
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