Hebamme von Sylt
Lieber ging sie ein Stück am Strand entlang, dann durch die Dünen und betrat die Weide von Westen her.
Zunächst glaubte sie an ein verendetes Tier, als sie das Lange, Dunkle, Schmale sah, was sich in ein enges Dünental streckte und bewegungslos dalag. Aber als sie näher kam, merkte sie schnell, dass sie sich geirrt hatte. Dort lag ein Mensch, bäuchlings, in den Strandhafer gedrückt, nur den Kopf leicht erhoben. Sogar aus größerer Entfernung war zu erkennen, dass es jemand war, der nicht entdeckt werden wollte, der etwas beobachtete, was nicht für seine Augen bestimmt war.
Geesche duckte sich unwillkürlich und machte sich eine Sandwehe zunutze, die der Wind vor einen dichten Strandhaferbusch getrieben hatte. Vorsichtig, tief gebückt, schlich sie sich heran und richtete ihren Körper erst wieder auf, als sie damit rechnen konnte, die Person zu erkennen, die dort im Sand lag. Sie machte ein dunkles Kleid aus, unter dem ein Fuß hervorsah, bleiche Haare, weder blond noch brünett, und dünne Strähnen, die sich aus den Flechten gelöst hatten und im leichten Wind faserten.
Geesche duckte sich erneut, setzte ihren Eimer ab und ließ sich im Sand nieder, um nachzudenken. Was tat Hanna hier? Wen beobachtete sie? Und wie war darauf zu reagieren, dass sie es tat? Freda hatte noch vor ein paar Stunden stolz berichtet,dass Hanna ausersehen war, die junge Comtesse auf einem Spaziergang durch Westerland zu begleiten. Hatte Hanna ihre Mutter belogen? Oder hatte sie ihre Arbeit als Elisas Gesellschafterin gleich am ersten Tag verloren? Freda setzte all ihre Hoffnungen auf Graf Arndt, der als Einziger nachsichtig mit ihrer Tochter umging, aber selbst er würde nicht immer über sämtliche Taktlosigkeiten und über Hannas Unverfrorenheit hinwegsehen können. Und erst recht würde Gräfin Katerina es nicht tun, die sich zwar bisher gefügt hatte, wenn ihr Mann darauf beharrte, Hanna Jahr für Jahr wieder in Dienst zu nehmen, deren Geduld aber sicherlich schnell ein Ende haben würde, wenn Hanna den Bogen überspannte und sich das Gleiche herausnahm wie in Geesches Haus.
Doch wenn man sie entlassen hatte, wen spionierte sie dann in den Dünen aus? Ließ sie nun alle Vorsicht fahren und belauerte sogar die Gräfin auf ihrem Weg zum Strand?
Sehr behutsam, ohne von Hanna gesehen zu werden, zog sie sich Richtung Strand zurück. Dann ging sie so nah wie möglich an die Wasserkante und blickte zu den Dünen hoch. Niemand war zu sehen, weder Hanna noch das Objekt ihrer Beobachtung. Geesche lief weiter, so weit, bis sie glaubte, dass sie über den Punkt hinaus war, an dem etwas geschah, was Hannas Aufmerksamkeit erregt hatte. Dort stapfte sie erneut in die Dünen. Sie merkte, dass Angst in ihr aufstieg, Angst vor allem um Freda, der sie weitere Enttäuschungen gern ersparen würde.
Vorsichtig machte sie einen Schritt vor dem nächsten, darauf bedacht, von Hanna nicht gesehen zu werden, und darauf gefasst, hinter jeder Erhebung etwas zu entdecken, was für ihre Augen genauso wenig bestimmt war wie für Hannas. Schließlich hatte sie den letzten Schritt getan. Das Dünengras war hier so dicht, dass sie sich leicht verbergen konnte, wenn sie sich so wie Hanna bäuchlings in den Sand legte. Vorsichtig reckte Geesche den Hals. Wer war das? Was ging in der Mulde der Düne vor?
Sie sah ein junges Paar, das auf einer Decke lag und sich leidenschaftlich küsste. Die Frau hatte ihre Arme fest um den Mann gelegt, drängte sich ihm entgegen, schien ihm gar nicht nah genug sein zu können. Erst als er sich von ihr löste, gab sie ihn widerwillig frei, bog sich ihm jedoch noch stürmischer entgegen, als seine Lippen eine Spur über ihren tiefen Ausschnitt zogen. Er hob sein Gesicht, lächelte sie an, sagte ein paar Worte … und nun erkannte Geesche ihn. Ebbo!
Er hatte sich also in den Dünen zu einem Schäferstündchen getroffen und ahnte nicht, dass er von seiner Schwester dabei beobachtet wurde. Doch wer war die junge Frau? Sie trug ein Kleid von feinstem Stoff, das war sogar aus der Entfernung zu erkennen, und Stiefeletten, wie sie auf Sylt nur selten gesehen wurden. Keine Fischerstochter und wohl auch nicht die Tochter eines Seemanns, nicht einmal die eines Kapitäns. Etwa die Tochter oder gar die Ehefrau eines vornehmen Kurgastes? Auf welches Abenteuer ließ Ebbo sich da ein? Hanna war nicht verschwiegen. Wenn sie ihren Bruder hier entdeckt hatte, dann würde die junge Frau über kurz oder lang in Schwierigkeiten geraten. Und Ebbo
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