Hebamme von Sylt
selbst womöglich auch. Nun nestelte er sogar an den Knöpfen ihrer weißen Bluse herum! Welche Frau auf Sylt trug eine solche Bluse?
In Geesche schoss die Antwort auf diese Frage hoch, noch ehe sie sicher sein konnte. Doch die Gewissheit folgte auf dem Fuße. Die junge Frau, mit deren Ehre Ebbo spielte, war Elisa von Zederlitz. Ebbo, der gute Sohn, Fredas ganze Hoffnung! Ebbo, der arme Fischerjunge, der kaum mehr besaß als das, was er am Leibe trug. Er und die Comtesse von Zederlitz, reich, verwöhnt, mit einem mächtigen Vater, der seiner Tochter nicht ungestraft die Ehre nehmen lassen würde. Elisa von Zederlitz, die einmal eine angemessene Partie machen würde, die Baronin, Fürstin oder gar Prinzessin werden, mindestens aber demnächst Frau Gräfin genannt werden würde! Sie lag mit einem der ärmsten Fischerjungen der Insel im Sand und wurde beobachtetvon einem Mädchen, das niemandem ein Glück gönnte, weil es selbst nie Glück erfahren hatte.
Wie würde Hanna mit ihrem Wissen umgehen? Geesche mochte sich nicht vorstellen, was mit Ebbo passieren würde, wenn die Wahrheit ans Licht kam, und mit der armen Freda, wenn der Graf die Familie Boyken für das bestrafte, was seiner Tochter angetan worden war. Ob Hanna klar war, welches Unglück da in ihren Händen lag?
Geesche begab sich vorsichtig auf den Rückzug. Erst als sie auf ihrem Weidestück die Schafsküttel einsammelte, war sie in der Lage, die Gedanken zu ordnen, die ihr beim Anblick des Paares durch den Kopf geschossen waren. Und sie konnte sie in Ruhe zu Ende denken. Wie war es der Comtesse gelungen, allein aus dem Haus zu kommen, um sich mit Ebbo zu treffen? Auf diese Frage gab es nur eine Antwort: Hanna deckte ihren Bruder und Elisa von Zederlitz. Der Graf und die Gräfin glaubten, dass ihre Tochter mit ihrer Gesellschafterin einen Spaziergang unternahm, in Wirklichkeit sorgte Hanna dafür, dass die beiden sich heimlich treffen, küssen und lieben konnten.
Hanna, die zwei Menschen einen Gefallen tat? Geesche stellte ihren Eimer ab und schüttelte den Kopf. Hanna beanspruchte zwar Gefälligkeiten, verlangte sie und reagierte wütend und ungerecht, wenn sie nicht bekam, was sie wollte, aber sie selbst ging nicht großzügig mit Liebenswürdigkeiten um. Weil es niemanden gab, den sie gern genug hatte, und niemanden, dem sie selbst etwas bedeutete. Außer Freda und Ebbo natürlich. Ja, von Freda erhielt sie Mutterliebe, so viel sie brauchte, und von Ebbo wurde sie geliebt wie eine Schwester. Und Hanna liebte ihn wie einen Bruder. Aber Elisa von Zederlitz?
Geesche dachte an das Stück Seife, das Hanna von der Comtesse geschenkt bekommen hatte, und rief sich in Erinnerung, wie unbefangen und freundlich Elisa von Zederlitz im letzten Sommer mit Hanna umgegangen war. So vorurteilsfrei, wie eskeinem Sylter je gelungen war. Möglich, dass Hanna von der Comtesse endlich die Anerkennung bekam, nach der sie sich ein Leben lang gesehnt hatte. Und dann war es möglich, dass sie ihr tatsächlich half. Ja, so musste es sein! Was aber sicherlich weder Elisa noch Ebbo ahnten, war, dass Hanna sie beim Liebesspiel beobachtete.
VII.
Königin Elisabeth von Rumänien, Gemahlin von König Carol I., war eine imposante Erscheinung. Eine große, stattliche Frau von Mitte vierzig mit ebenmäßigen Zügen und tief liegenden Augen unter starken Brauen, die ihrem Gesicht etwas Geheimnisvolles gaben. Das lag allerdings völlig im Widerspruch zu ihrem klaren Wesen. Die Königin war eine lebhafte Person, freundlich und zugänglich, offen für jedermann, der sie aufsuchte.
Als Prinzessin zu Wied war sie auf die Welt gekommen. Mit fünfundzwanzig Jahren lernte sie Prinz Karl von Hohenzollern-Sigmaringen kennen, den sie ein Jahr später heiratete. Als er in Rumänien zum König gekrönt wurde, folgte sie ihm, der sich nun Carol I. nannte, nach Bukarest.
Dr. Julius Pollacsek kannte ihre Beinamen »dichtende Königin« und »königliche Dichterin« und wusste, dass sie unter dem Pseudonym Carmen Sylva schon viele Gedichte und Romane verfasst hatte. Von einer Hofdame hatte er auch erfahren, dass Ihre Majestät ihr einziges Kind, eine kleine Tochter, im Alter von nur vier Jahren verloren hatte. Das lag zwar bereits vierzehn Jahre zurück, dennoch wurde ihm empfohlen, mit der Königin nicht von Kindern, insbesondere nicht von kleinen Mädchen und auf keinen Fall vom Tod zu sprechen, wenn er Wert darauf legte, ein heiteres, unverfängliches Gespräch mit ihr zu führen.
Das war Dr.
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