Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
sich weigern, in Ihrem Innern oder in der Außenwelt etwas zu sehen, das eigentlich klar auf der Hand liegt. Sie tun das, weil es schwer erträglich für Sie wäre, die Sache zuzugeben. Ein Beispiel: Sie haben jede Menge Indizien dafür, dass Ihr Ehepartner Sie betrügt (und auch Ihre Freunde und Bekannten haben mehr als nur eine vage Ahnung), aber Sie merken es einfach nicht, obwohl es Ihnen doch ins Auge springen müsste. Wenn Sie diese Untreue wahrnähmen, würde Ihnen das zu viel Kummer und Probleme bereiten.
All dies geschieht unbewusst, Sie tun es nicht mit Absicht; ein Teil Ihres Gehirns verbirgt Ihnen eine Tatsache, die Ihnen allzu wehtun würde. Mithilfe der Verleugnung hatte Hector nie über seine Wutanfälle nachdenken müssen; er konnte sie, anders als Clara, sozusagen vergessen.
Um bewusste Verdrängung handelt es sich, wenn Sie es schaffen, ein meist unerfreuliches Gefühl wie etwa den Zorn voll und ganz einzudämmen. Es ist nicht dasselbe, als würden Sie Ihren Zorn kontrollieren; er wird nur einfach in solchen Tiefen zurückgehalten, dass er nie bis an die Oberfläche Ihres Bewusstseins steigt und Sie gar nichts von ihm mitbekommen.
Aber diese beiden Abwehrmechanismen funktionieren nicht immer; in Ihrem Innersten köchelt es beständig vor sich hin, und dann kommt eines Tages plötzlich eine Dampffontäne emporgeschossen wie die, die Géraldine vorhin mitten ins Gesicht getroffen hatte, und die übrige Zeit sind Sie permanent überhitzt, wodurch Sie chronisch reizbar werden.
Was denn, werden Sie jetzt sagen – Verleugnung, bewusste Verdrängung, das kommt doch alles aus der Psychoanalyse, aber Hector ist doch gar kein Psychoanalytiker!
Stimmt, aber trotzdem hielt Hector die Theorie von den Abwehrmechanismen für interessant, um bestimmte Probleme zu erklären, wenn auch nicht die Ursachen der großen psychischen Erkrankungen, obwohl Freuds allzu eifrige Jünger das lange geglaubt hatten.
Es war ein bisschen wie mit dem Katholizismus. Man kann die Botschaft von Jesus Christus bejahen und glauben, dass die christlichen Riten gute Dienste leisten, um die Menschen einander anzunähern und die Mächtigen im Zaum zu halten, aber gleichzeitig ernsthaft bezweifeln, dass die Welt in sieben Tagen geschaffen worden ist, dass sich die Sonne um die Erde dreht oder dass der Papst unfehlbar ist – woran übrigens auch der Papst selbst nicht glaubt!
In der großen Landschaft der Psychoanalyse hatte also die Theorie der Abwehrmechanismen Hectors Interesse geweckt; entwickelt hatte sie übrigens Sigmund Freuds Tochter, die von ihrem Papa analysiert worden war und niemals geheiratet hatte.
Endlich schlief Hector wieder ein, aber er träumte von einem bestirnten Himmel, der von Engeln und Dämonen bevölkert war, während die Sonne sich um die Erde drehte.
Beim Frühstück (zu dem es keine Cornflakes gab) sagte Clara: »Und wenn wir mal in den Urlaub fahren würden?«
Hector schaute sie an. Man ahnte kaum noch, dass Clara am Abend zuvor geweint hatte; sie sah untadelig aus, perfekt gewappnet fürs Büro. Und plötzlich wurde ihm klar, dass sich die Männer auf der Straße bestimmt nach ihr umschauten. Eigentlich sollte er sich jeden Tag sagen, welches Glück er hatte!
»Urlaub?«, meinte Hector. »Das ist eine großartige Idee.«
Aber er wusste nur zu gut, dass es mit Ferien nicht getan sein würde.
Er sah die Beunruhigung und Traurigkeit in Claras Augen.
»Vielleicht solltest du mit einem Kollegen darüber sprechen?!«
»Das ist schon beschlossene Sache.« Und er berichtete ihr von seinem Gespräch mit dem alten François.
Nun wirkte Clara wenigstens ein bisschen erleichtert, denn sie kannte und schätzte Hectors alten Kollegen.
Aber erst einmal war ein neuer Tag zu bewältigen, und Hector nahm sich vor, so eine verrückte Anwandlung wie mit Géraldine nicht bei seinen Patienten zu bekommen – nicht einmal bei denen, die ihm besonders auf die Nerven gingen …
Hector in einer Therapie à la française
Hector und der alte François konnten in ihren Terminkalendern nicht gleich eine Lücke finden, und so beschlossen sie, sich an einem Samstag zum Mittagessen zu treffen. Auch das wird bei einer Therapie nicht gerade empfohlen, aber da sie ja beide Psychiater waren und noch dazu Freunde, konnte man nicht wirklich von einer Therapie sprechen.
Als Hector in der Brasserie des Hotels Lutetia eintraf, saß der alte François bereits auf einer Polsterbank, von der aus man eine gute Sicht auf den
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