Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
natürlich wirkte.
Hector war ein wenig enttäuscht, denn solche Dinge wie Haarefärben oder kosmetische Behandlungen passten nicht zu dem Bild, das er vom alten François hatte. Er hatte immer geglaubt, sein Kollege sei zu einem Weisen geworden, der alle Eitelkeiten des Daseins weit hinter sich gelassen hatte. Ob er wohl wirklich so ein guter Ratgeber war?
Doch vielleicht war Weisheit gerade, wenn man akzeptierte, dass niemand rundum weise ist und dass die besten Ratschläge manchmal von Menschen kommen, die sie im eigenen Leben nicht umsetzen können.
»Ich glaube, dass ich auch zornig auf mich selbst bin, weil ich mich eines Lebens erfreue, von dem viele Leute nur träumen können. Ich finde, langsam werde ich meinen nervtötendsten Patienten ähnlich – denen, die alles haben und trotzdem nicht zufrieden sind …«
»Wirklich?«, sagte der alte François.
»Und ich habe den Eindruck, dass mir irgendwann die Sicherungen durchbrennen werden, wenn ich so weitermache …«
»Das gilt es tatsächlich zu vermeiden«, sagte der alte François. Dann saß er eine Weile schweigend da und schaute hinaus auf die Bäume des Square Boucicaut, die sich mit frischem Laub bedeckt hatten – ganz so, wie er selbst sich womöglich frische Haare hatte wachsen lassen.
Lag es an einer Frau, dass der alte François jünger aussehen wollte?
»Na gut«, sagte er jetzt, »bei Ihnen kann ich schneller vorangehen. Ich würde sagen, dass Sie mit mindestens drei Problemen gleichzeitig zu kämpfen haben.«
»Ist das nicht ein bisschen viel für einen einzigen Mann?«, sagte Hector lächelnd.
Der alte François begann die Probleme an seinen Fingern abzuzählen: »Erstens – berufliches Burn-out …«
Ja, dachte Hector. Er wusste, dass sein Terminkalender viel zu dicht gefüllt war, und das seit Jahren. Manchmal hatte er den Eindruck, seinen Patienten nicht mehr gut genug zuhören zu können, und oftmals war er erschöpft. Zum Glück aber hatte er noch nicht Tristans Stadium erreicht: Seine Patienten waren ihm immer noch wichtig, und er fragte sich bisweilen beunruhigt, ob er ihnen eigentlich noch gerecht wurde.
»Zweitens – Leeres-Nest-Syndrom.«
Hector hätte gedacht, dass vor allem Clara darunter litt, die Kinder nicht mehr im Haus zu haben. Jetzt aber wurde ihm klar, dass auch er sich noch nicht daran gewöhnt hatte; sie fehlten ihm, selbst wenn er sie oft auf dem Computerbildschirm sah. Die Gegenwart der Kinder hatte ihn sicher auch immer vom Gefühl der eigenen Sterblichkeit abgelenkt, das ihn neuerdings immer häufiger beschlich.
»Und drittens und letztens«, sagte der alte François, wobei er beide Hände hob und mit den Zeigefingern und Mittelfingern imaginäre Gänsefüßchen in die Luft zeichnete, »eine hübsche kleine Midlife-Crisis.«
Nun also hat es auch mich erwischt, dachte Hector, während der Kellner die Muschelschalen abräumte, die sich auf ihren Tellern türmten.
Hector irrt sich
»Das Burn-out ist für Sie leichter als für die meisten in den Griff zu bekommen«, sagte der alte François. »Sie haben keinen Chef und können selbst versuchen, Ihr Arbeitspensum zu regulieren.«
»Ich weiß, dass das ein Glück ist«, meinte Hector und dachte dabei an all seine Freunde, die – wie auch Clara – in einem Unternehmen arbeiteten und ihm sagten, dass sie ihn um seine Freiheit beneideten. Er habe keine Vorgesetzten, keine Versammlungen und keine Verkaufszahlen, die es zu erreichen galt …
Hector hätte ihnen entgegnen können, dass er sich in seiner Praxis manchmal wie eingekerkert fühlte und sich ziemlich allein vorkam, aber er mochte die Freunde nicht mit seinen Problemen beladen – über die wollte er nur mit dem alten François reden.
»Und Ihr Leeres-Nest-Syndrom?«
»Ja, die Kinder fehlen uns … fehlen mir … aber ich glaube, daran gewöhnt man sich letztendlich.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte der alte François. »Im Allgemeinen geht das vorüber, wenn die Leute ein ausgefülltes Leben haben. Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, lieber Freund, dass dieses Syndrom auch wieder so eine schreckliche Krankheit unserer modernen Welt ist – genauso wie Verkehrsstaus oder Altersheime?«
»Eine Krankheit der modernen Welt?!«
»Natürlich, denn früher standen wir viel seltener vor dem leeren Nest. Wenn unsere Kinder flügge geworden waren, hatten wir meist schon das Zeitliche gesegnet!«
Der alte François lachte schallend los und zeigte dabei sehr weiße
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