Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
Zähne. So hatte Hector ihn noch nie lachen sehen.
»… und wenn wir durch einen glücklichen Zufall noch auf Erden weilten, nahmen uns unsere Sprösslinge bei sich auf und setzten uns neben den Ofen – oftmals im selben Haus, das schon unsere Eltern bewohnt hatten. Wissen Sie, ich bin wohl einer der letzten lebenden Zeugen jener Welt. In den Häusern meiner Kinderjahre gab es immer eine Großmutter oder Großtante, die irgendwo in einem Zimmer sachte verdämmerte, und manchmal versuchte sie sich dabei noch nützlich zu machen.« Der alte François hatte Kinder und Enkelkinder, aber bei seiner heutigen Form hatte er sicher noch etliche Jahre vor sich, ehe er ihnen zur Last fallen würde.
Der Kellner (der, wie Hector bemerkte, noch überaus jung war) brachte ihnen die beiden Schmortöpfchen aus schwarzem Gusseisen, aus denen es dampfte.
»Beim Pot au feu hängt alles davon ab, dass man das richtige Fleisch wählt«, sagte der alte François. »Schulterstück oder Querrippe, alles andere ist selten zart genug.«
Sie tranken weiterhin nichts, indem sie jetzt zwei Gläser Maucaillou nahmen, und die Sonnenstrahlen, die bis an ihren Tisch drangen, ließen den Wein rubinrot aufleuchten. Draußen auf dem Square Boucicaut sah Hector die kleinen Kinder spielen, noch in ihren Wintermänteln und beaufsichtigt von ihren Müttern oder Kindermädchen. Manche dieser Kinder würden eines Tages vielleicht ihrerseits im Lutetia speisen, über ihre Midlife-Crisis sprechen und den Kindern, die nach ihnen gekommen waren, beim Spielen zuschauen …
»Und die Midlife-Crisis, von der ich vorhin gesprochen habe«, sagte in diesem Moment der alte François, »was denken Sie darüber?«
Hector antwortete, dass er ein bisschen hinterherhinke: Er mache seine Midlife-Crisis erst durch, nachdem er die Lebensmitte schon eine Weile überschritten habe – es sei denn, er würde hundert Jahre alt.
»Aber bei all den Fortschritten der Wissenschaft ist das doch keineswegs unwahrscheinlich!«, rief der alte François mit einer Kraft, die Hector zusammenfahren ließ. Dann wandte er sich an den Kellner, um sich grobes Salz bringen zu lassen. Er brauchte es für den hübschen rosafarbenen Zylinder aus Mark, den er aus dem Rindsknochen geklopft hatte und nun mit großem Appetit betrachtete.
»Ich glaube, bei mir ist es nur eine halbe Midlife-Crisis«, meinte Hector.
»Wie das, eine halbe?«
»Na ja, bei mir fehlt die Komponente ›Bedauern‹, ›Gefühl des Scheiterns‹ und so weiter …«
Bei seinen Patienten hatte er das oft erlebt, etwa bei Olivia und Sabine: Sie hatten plötzlich das Gefühl, ihr bisheriges Leben sei ein Irrtum gewesen, und sie hätten das falsche Gleis gewählt. Und so haderten sie mit sich selbst oder mit den anderen, weil man sie schlecht beraten hatte, als sie sich auf eine Ehe oder einen Beruf eingelassen hatten, in denen sie nicht glücklich geworden waren.
Hector hatte festgestellt, dass diese Leute im Grunde an einer »negativen Neuinterpretation der Vergangenheit« krankten, bei der sie die glücklichen Momente ihrer Ehe oder die schönen Stunden in ihrem Beruf vergaßen. Das war aber auch normal – wenn Sie traurig oder zornig sind, kommen Ihnen vor allem Erinnerungen, die Sie traurig oder zornig machen.
Hectors persönliches Problem war das allerdings nicht: Bislang war er im Großen und Ganzen mit seiner Arbeit zufrieden gewesen, und es störte ihn nicht, dass er keine Karriere gemacht hatte. Er bereute nichts und konnte sich dennoch schlecht vorstellen, für sein restliches Leben in seiner Praxis eingesperrt zu sein.
»Wir werden die Ursachen für Ihren Überdruss untersuchen müssen«, sagte der alte François und untersuchte dabei seinen Rindsknochen, ob sich in ihm nicht noch ein wenig Mark fand. »Vielleicht sollten wir Ihre Arbeitsweise durchdenken, Ihre Beziehungen zu den Patienten? Sie wissen ja, dass man sich nicht so auslutschen lassen darf, wie ich es hier mit dem Knochen mache!«
»Am Ende mancher Tage fühle ich mich wirklich ganz schön ausgelutscht …«
»Das ist ja das Problem in unserem Beruf: den richtigen Abstand zu wahren. Wenn man zu nahe an seinen Patienten ist, macht man sich fertig, aber wenn man zu sehr auf Distanz geht, wird man zynisch, und alles ist einem schnurz. In beiden Fällen leidet die Behandlung darunter. Vielleicht machen Sie mal wieder eine Supervision bei einem Kollegen? Das könnte Ihnen helfen, Ihre Arbeitsweise mit anderen Augen zu sehen. Dabei denke ich
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