Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
Boulevard Raspail und den Square Boucicaut hatte.
Beim Näherkommen war Hector höchst verwundert, denn sein alter Kollege schien sich verjüngt zu haben. Seine Haare wirkten dichter als sonst, und als sie miteinander zu sprechen begannen, sah auch sein Gesicht lebendiger aus und weniger faltig, als Hector es in Erinnerung hatte. Sein traditioneller Anzug und seine Fliege schienen jedoch zu einer anderen Epoche zu gehören und zu einem älteren Mann als dem, der Hector heute gegenübersaß.
»Mir gefällt dieses Restaurant aus mehreren Gründen«, sagte der alte François.
»Schon wieder die Magie eines Ortes und seiner Geschichte?«
»Ganz genau. Auch wenn ich die neue Innenausstattung der Brasserie ein wenig zu nüchtern finde.«
Die Innenausstattung war in Schwarz und Silber gehalten und passte gut zur schwarzen Dienstbekleidung und den weißen Schürzen der Kellner. Sie war schon seit zwanzig Jahren unverändert dieselbe, aber der alte François empfand sie als neu. Die Besucher der Brasserie hatten alle schon ein gewisses Alter erreicht; es waren ganz offensichtlich Stammgäste: viele Ehepaare, ein paar Geschäftsleute, die aber lässiger gekleidet waren als auf dem rechten Seineufer, sie waren eher aus der Verlags- oder Medienbranche als Bankiers.
»Ich empfehle Ihnen die Austern, mein Freund, und was mich angeht, so werde ich danach einen Pot au feu nehmen, der ist hier ganz hervorragend.«
Hector schloss sich dem Kollegen an, und schon bald machten sie sich über ihr Dutzend Austern der Sorte »Fines de Claires Nr. 3« her, die die Farbe des Meeres und der Felsen hatten. Dazu bestellten sie einen weißen Sancerre, aber jeder nur ein Glas, was die französische Art ist, nicht wirklich etwas zu trinken.
»Nun gut, und jetzt erzählen Sie mir mal, wie der Stand der Dinge ist.«
Hector berichtete ihm von seinem Gespräch mit Clara und davon, was ihm in jener Nacht klar geworden war.
Vom Gefühl, dass sein Sprechzimmer ihm allmählich zum Gefängnis wurde. Von seinen mehr oder weniger unterdrückten Zorneswallungen. »Sie haben mich ja selbst mit Géraldine erlebt. Auch wenn ich mich da noch unter Kontrolle bekommen habe.«
»Ich habe Sie erbleichen sehen«, sagte der alte François, »und das ist das Zeichen für heftigen Zorn.«
»Und wenn ich puterrot geworden wäre?«, fragte Hector in scherzhaftem Ton.
Der alte François lächelte.
»Ich habe in einer Studie gelesen, dass das Erbleichen einen besonders heftigen Zorn anzeigt, der uns aufs Kämpfen vorbereitet: Das Blut zieht sich aus der Haut zurück und versorgt vor allem die Muskeln und das Gehirn. Wenn man errötet, beginnt man sich schon wieder zu fangen.«
Der alte François hatte das Metier der Psychiatrie bei einem direkten Schüler von Freud gelernt, aber er liebte auch die Biologie und viele weitere Disziplinen; er war, wie man so sagt, ein wahrer Wissensborn.
»Und was erklärt Ihrer Meinung nach Ihre immer häufigeren Zorneswallungen?«, erkundigte er sich, nachdem er seine erste Auster geschlürft hatte.
Hector hatte mittlerweile Zeit gehabt, über seinen Fall nachzudenken.
»Dass ich nichts mehr zu erhoffen habe«, sagte er, »das macht mich so zornig.«
»Nichts mehr zu erhoffen?« Der alte François wirkte ziemlich überrascht.
»Na ja, wenn Sie so wollen, kann ich natürlich noch hoffen, dass alles so weitergeht wie bisher, dass nichts ernsthaft schiefläuft. Aber in meinem Alter und meinem Beruf kann ich wirklich nicht mehr erwarten, dass noch etwas Neues passiert.«
Der alte François nickte. »Ja, damit sind die meisten Leute in Ihren Jahren zufrieden – dass das Leben so bleibt, wie es ist. Vor allem, wenn sie ganz angenehm leben.«
»Also muss ich innerlich jünger sein, als mein Ausweis es anzeigt.«
»Die meisten halten sich für jünger, als sie wirklich sind«, meinte der alte François. »Aber es stimmt – Sie wirken tatsächlich noch ziemlich jung.«
»Womöglich ist gerade das mein Problem«, sagte Hector. »Ich sollte vielleicht schleunigst eine Runde altern und mich mit meinem Schicksal abfinden!«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte der alte François und lachte. »Solche Altersschübe kommen schnell genug!«
Hector sagte sich, dass sein Kollege seit ihrer letzten Begegnung eher einen Jugendschub erlebt hatte. Inzwischen war er sich sicher: Der alte François musste sich dezent die Haare färben, und bestimmt hatte er auch etwas gegen seine Falten getan, selbst wenn das Ergebnis sehr
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