Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
richtigen Fragen stellte. Doch wenn er an all die richtigen Fragen dachte, die er ihr würde stellen müssen, wurde er plötzlich schon im Vorhinein müde. Und das bei einer so sympathischen Patientin!
Hector vermerkte in Sabines Krankenakte: berufliches Burn-out + Erschöpfung als Mutter + »Midlife-Crisis« .
Wollen sogar die Nonnen ein neues Leben anfangen?
Nachdem Hector Sabine zur Tür gebracht hatte, legte er eine kleine Pause ein.
Er machte sich in der winzigen Küche seiner Praxis einen Kaffee und trat mit der Tasse ans Fenster des Sprechzimmers, von dem aus man einen schönen Blick auf den Turm der Kirche Saint-Honoré-d’Eylau hatte. Sie lag genau gegenüber, und das war praktisch, denn die Kirchenglocke markierte jede abgelaufene halbe Stunde mit einem leisen Bimmeln, sodass Hector immer wusste, wie lange er schon überzogen hatte, auch ohne auf seine Armbanduhr schauen zu müssen. Das sollten Sie nämlich vermeiden, wenn Ihnen gerade jemand erzählt, dass er nicht mehr so weiterleben kann oder dass seine Mutter ihn nie geliebt hat.
Es war eine Kirche aus dem 19. Jahrhundert, an der weiter nichts Bemerkenswertes war, als dass ein Kloster dazugehörte. Dort lebten Nonnen, deren Ordensregeln es verboten, das Kloster jemals zu verlassen.
Hector konnte sich ja noch vorstellen, eines Tages als Mönch in einer abgeschiedenen Abtei mitten im Grünen zu leben (dann riskierte er nicht mehr, dass ihm hübsche Frauen über den Weg liefen) – aber hier, eingeschlossen inmitten einer Metropole? Wenn einem die ganze Zeit das geräuschvolle Großstadttreiben in den Ohren klang? Er fragte sich, ob nicht auch manche der Nonnen bisweilen Lust bekamen, ein neues Leben anzufangen oder wenigstens mal den Klosterbezirk zu verlassen, um in der vorzüglichen Patisserie auf der anderen Seite der Place Victor Hugo ein Eis zu essen.
Er wusste, dass es in jeder Ordensgemeinschaft Bestimmungen für den Fall gab, dass jemand sich nicht mehr berufen fühlte – aber wie sollte man ins Leben zurückfinden, nachdem man Jahre hinter Klostermauern verbracht hatte? Vielleicht sollte er dem Orden für solche Lebenslagen seine Hilfe anbieten? Er brauchte ja nur über die Straße zu gehen. So würde er wenigstens mal aus seinen Praxisräumen kommen …
Das nämlich war ein anderes Problem von Hector: Mehr und mehr fühlte er sich eingesperrt in seinem Sprechzimmer.
Roger will kein neues Leben anfangen
»Vielleicht sehen wir uns heute zum letzten Mal, Doktor.«
Roger war ein Patient, den Hector schon lange kannte. Er wirkte ziemlich Furcht einflößend mit seinen Möbelpackerschultern, seinen buschigen Augenbrauen und seinen etwas schiefen Zähnen. In einem Kinderfilm hätte er gut den Menschenfresser spielen können, aber eigentlich war er nett, zumindest so lange, wie man ihn nicht in Sachen Gott ärgerte.
Seit seiner Jugend hörte Roger, wie Gott zu ihm sprach; eine Zeit lang hatte er sogar geglaubt, von Ihm ausgesandt worden zu sein, um die Welt zu retten. Und weil dazu noch die Neigung kam, schnell in Rage zu geraten, wenn die Leute über seine Worte lachten, war das eine gefährliche Mischung, die ihn schon oft in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht hatte – und manche der Spötter in ein normales Krankenhaus.
Etliche Psychiater hatten sich an Roger die Zähne ausgebissen, aber dann war es Hector gelungen, eine recht gute Beziehung zu ihm aufzubauen. Vielleicht lag es daran, dass Hector einst eine kirchliche Schule besucht hatte? Und auch wenn er heute nicht richtig wusste, ob er noch gläubig war, wusste er, wovon Roger redete, wenn er vom Allerhöchsten sprach oder von der kniffligen Frage, ob man der göttlichen Gnade nur durch gute Werke teilhaftig wurde oder auch ohne gute Werke. Früher haben sich die Leute wegen dieses Problems gegenseitig umgebracht, aber leider ist nie jemand wiederauferstanden, um den anderen zu berichten, wer letztendlich recht hatte.
Und dann fand Hector auch, dass Roger trotz seiner Wahnvorstellungen oft sehr interessante Überlegungen zum Leben anstellte, und manchmal notierte Hector sie sich sogar.
Und dank dieses guten Verhältnisses zwischen ihnen beiden hatte er Roger sogar überzeugen können, täglich seine Medikamente einzunehmen.
Und die Stimme des Ewigen war so zu einer kleinen Hintergrundmusik geworden, die Roger nicht daran hinderte, ein beinahe normales Leben zu führen.
Und Hector hatte Roger beigebracht, über diese Stimme nur mit seinem Psychiater oder dem
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