Heidelberger Requiem
bestimmten Zeitpunkt mit Sicherheit anzutreffen war? Weil es das Opfer zusätzlich demütigte, ausgerechnet hier in seinem eigenen Reich getötet zu werden?
Und warum diese ungewöhnliche Art der Tötung? Einen geschäftlichen Konkurrenten bringt man nicht auf diese Weise um, es sei denn, man möchte ein Zeichen setzen. Ein Zeichen für andere, sich in Acht zu nehmen, nicht denselben Fehler zu begehen, den das Opfer begangen hatte. Waren Grotheer und der Täter sich bei ihren Drogengeschäften in die Quere gekommen? Das erklärte nicht die Grausamkeit der Tat. Einen Konkurrenten legt man um und fertig.
Nein, hier musste es um etwas anderes gegangen sein. Der Mörder war hereingekommen und hatte von der ersten Sekunde an einen festen Plan verfolgt. Er hatte ihn geknebelt, aufs Bett geworfen und mit den Händen an die Gitterstäbe am Kopfteil gefesselt. Dann hatte er ihm die Pulsadern aufgeschnitten, an beiden Handgelenken, und zwar gerade so weit, dass das Blut herausströmte. Nicht zu wenig, sodass die Wunden sich nicht wieder schließen konnten. Nicht zu sehr, sodass der Tod möglichst lange hinausgezögert wurde.
Warum musste es so lange dauern? Wollte er es auskosten, in die Länge ziehen, oder sollte sein Opfer aus einem bestimmten Grund so lange leiden?
Es gibt nach meiner Erfahrung drei Motive, einen Menschen auf solche Weise hinzurichten: sexuelle Perversion, tiefe religiöse oder politische Überzeugung und Rache. Vergeltung für etwas so unvorstellbar Grausames, dass der schlimmste denkbare Tod gerade angemessen erscheint. Anzeichen für sexuelle Handlungen waren nicht gefunden worden. Grotheer war vollständig bekleidet gestorben, kein Knopf war geöffnet, kein Reißverschluss angefasst worden. Anzeichen für irgendwelche religiösen oder politischen Motive gab es ebenfalls nicht.
Also Rache? Nachdem er ihm die Pulsadern geöffnet hatte, hatte der Täter sein Opfer nicht mehr berührt. Was hatte er getan in diesen eineinhalb Stunden? Einfach nur zugesehen? Ich versuchte mir vorzustellen, wo er gestanden hatte. Anfangs war er vielleicht ein wenig auf und ab gegangen, immer verfolgt von Grotheers vor Angst geweiteten Augen, seinem fassungslosen Blick.
Natürlich hatten sie sich gekannt.
Konnte man einen Menschen, den man nicht persönlich kannte, so sehr hassen? Wohl kaum. Irgendwo in der Vergangenheit musste es einen Moment geben, wo diese beiden schon einmal aufeinander getroffen waren, wo einer sich ungerecht behandelt gefühlt hatte, zutiefst verletzt, gedemütigt. Er hatte die Beleidigung, den Schmerz hinuntergeschluckt, Jahr um Jahr mit sich herumgetragen, bis irgendwann das Bedürfnis nach Rache unerträglich wurde. Bis er nicht mehr anders konnte, als ihm nachzugeben. Oder bis etwas geschehen war, was die Vergeltung erst möglich machte.
Später, als Grotheer vielleicht schon nicht mehr bei Bewusstsein war, hatte der Mörder begonnen, sein Blut mit einer Tasse aufzufangen, die jetzt zerschellt in der Ecke lag, und es im Raum zu verteilen. Warum? Auf sein Opfer machte es keinen Eindruck mehr. Wen also sollte es beeindrucken? Mich, den Jäger? Wollte der Täter bewundert werden? Oder wollte er mir etwas mitteilen, indem er den Raum mit Blut tränkte?
Ich erhob mich und sah mich unter Grotheers Habseligkeiten um. Auch was die Kleidung betraf, war sein Geschmack einfach gewesen. Mehrere nahezu identisch aussehende und sicherlich nicht billige schwarze Lederanzüge hingen im Schrank. Daneben stapelweise T-Shirts angesehener Marken, ein paar Jeans, sieben oder acht Paar teure Sportschuhe.
Als ich wieder auf die Uhr sah, war eine Dreiviertelstunde vergangen, und ich hatte nicht eine Antwort gefunden. Dafür eine Menge neuer Fragen. Aber das machte nichts. Fragen sind der Anfang von allem.
6
Auf der Autobahn nach Karlsruhe hörte ich im Radio, dass die achtundzwanzigjährige Frau nicht überlebt hatte, die am Vormittag aus dem Fenster gestürzt war. Schon im Lauf des Tages hatte ich erfahren, dass es kein Unfall, sondern Selbstmord gewesen war. Meine Leute hatten in der Zweizimmerwohnung, die sie allein bewohnt hatte, einen langen Abschiedsbrief gefunden. Trotz intensiver ärztlicher Bemühungen in einer der vermutlich besten unfallchirurgischen Kliniken der Welt war sie am späten Nachmittag ihren Verletzungen erlegen.
Die Zwillinge kamen nicht um halb elf, sondern um fünf vor zwölf, strahlend glücklich und bis zur Unkenntlichkeit zerstochen. Die zwei Burschen, die sie verlegen grinsend
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