Heidi - Buch 1 und 2 - Illustrierte Ausgabe
Luft wie gewürzige Nelken und Thymian, und kehrten die Geißen am Abend heim, so fingen sie alle zu meckern und zu springen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo das Bündelchen lag, denn sie kannten den Geruch. Aber der Öhi hatte die Tür gut zugemacht, denn er kletterte den seltenen Kräuterchen nicht nach, hoch an die Felsen hinauf, damit die Geißenschar ohne Mühe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Kräutlein waren alle für das Schwänli bestimmt, damit es immer noch kräftigere Milch hergebe. Man konnte auch gut sehen, wie die außerordentliche Pflege bei ihm anschlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Höhe und machte ganz feurige Augen dazu.
So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater des Morgens, wenn er sie heruntertrug, um sie in ihren Stuhl zu setzen, jedesmal gesagt: »Will das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu stehen?« Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber sie hatte immer gleich gesagt: »Oh, ’s tut zu weh!« und hatte sich an ihn festgeklammert; er ließ sie aber jeden Tag ein wenig länger probieren.
Ein so schöner Sommer war seit Jahren nicht auf der Alp gewesen. Jeden Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin, und alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und glühten und dufteten zu ihr empor, und am Abend warf sie ihr Purpur- und Rosenlicht auf die Felsenhörner und das Schneefeld hinüber und tauchte dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzählte das Heidi seiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte man das alles so recht sehen, und von der Stelle oben am Abhange erzählte es mit besonderem Feuer, wie dort jetzt die großen Scharen der glitzernden, goldenen Weideröschen stehen und Blauglöckchen so viele, daß man meine, dort sei das Gras blau geworden, und daneben ganze Büsche von den braunen Kolbenblümchen, die so schön riechen, daß man nur auf den Boden sitzen müsse zu ihnen und gar nicht mehr fort wolle.
Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte das Heidi aufs neue von den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen erzählt, und dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen, wieder einmal dorthin zu kommen, daß es mit einemmal aufsprang und davonrannte, dem Großvater zu, der im Schopf auf seinem Schnitzstuhl saß.
»O Großvater«, rief es schon von weitem hinüber, »kommst du morgen mit uns auf die Weide? Oh, jetzt ist es so schön dort oben!«
»Es bleibt dabei«, sagte der Großvater zustimmend, »aber dann muß mir das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß mir heut abend das Stehen noch einmal recht probieren.«
Frohlockend kam das Heidi mit seiner Nachricht zu Klara zurück, und diese versprach gleich, sovielmal versuchen zu wollen, auf ihren Füßen zu stehen, als der Großvater nur wolle, denn sie freute sich ganz ungeheuer, diese Reise nach der schönen Geißenweide hinauf zu machen. Das Heidi war so voller Jubel, daß es gleich dem Peter entgegenrief, sobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte:
»Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben.«
Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bär und schlug mit Wut nach dem unschuldigen Distelfink, der neben ihm trabte. Aber der flinke Distelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er machte einen hohen Satz über das Schneehöppli weg, und der Hieb sauste in die Luft hinaus.
Klara und Heidi bestiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei schönen Betten, und so erfüllt waren sie von ihren Plänen für morgen, daß sie beschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort davon zu sprechen, bis sie wieder aufstehen durften. Kaum lagen sie aber auf ihren guten Kissen, so hörten die Gespräche plötzlich auf, und Klara sah im Traume ein großes, großes Feld vor sich, das war ganz himmelblau anzusehen, so dicht besät war es von lauter Glockenblumen; und das Heidi hörte den Raubvogel oben in den Höhen, wie er herunterschrie: »Kommt! Kommt! Kommt!«
8. Es geschieht, was keiner erwartet hat
I n aller Frühe trat der Öhi am andern Morgen aus der Hütte und schaute ringsum, wie der Tag sich gestalten wolle. Auf den hohen Bergspitzen lag ein rötlich-goldener Schein; ein frischer Wind fing an, die Äste der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne
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