Heidi Klum - Chamäleongesicht. Biographie (German Edition)
ausbrechen ließ. Und er weint nun abermals, vor laufender Kamera, während er dieses längst bekannte Foto betrachtet. Gut, das Album hat er wohl noch nie gesehen, und Heidi verbreitet im deutschen Fernsehen auch die Information, dass sie Seal, dem sie sonst alles erzählen würde, verschwiegen habe, dass seine Schwester aus der Pflegefamilie einreist. Auch Heidi weint, und die Nation ist gerührt im Gefühl, Heidis Geburtstagsüberraschung live und das erste Mal zu sehen. Tatsächlich aber handelt es sich um ein Theaterstück nach einem wahren Vorfall, der schon viele Monate zurück liegt. Es ist möglich, dass Seal wirklich nicht weiß, dass hinter den Kulissen seine damalige Schwester aus der Pflegefamilie für ein Wiedersehen nach exakt 40 Jahren bereit steht. Doch wenn er es schon nicht weiß, dann kennt er doch Oprah Winfrey und ihre einschlägigen tränenreichen Familienzusammenführungen. Doch das Thema ist seine offene Wunde, nach all den Jahren, und sein anhaltende große emotionale Betroffenheit reißt alle mit, und es ist, als erlebe er das alles zum ersten Mal. Die Schoolings haben ein Videotape zur Verfügung gestellt, in dem das damalige Haus, in dem man zusammen lebte, zu sehen ist. Während Seal im Fotoalbum blättert, erzählt eine sichtlich gerührte Heidi: „Er hat noch nie Bilder von sich selbst als kleinem Jungen gesehen ... Er hat keine Erinnerung daran und er kennt keinen, der ihm etwas von dieser Zeit erzählen könnte.“ Keiner dieser Aussagen stimmt im Jahr 2007 noch, denn der Kontakt mit den Schoolings besteht schon seit einem Jahr. Seal erzählt anderenorts, dass er seither auch den Kontakt zu seiner ehemaligen Pflegefamilie pflegen würde. Heidi erzählt mit ungläubig aufgerissenen Augen taff , warum eine Wiedervereinigung bislang gescheitert ist: „Die hatten doch alle keinen Pass! Ne? Viele Leuten haben keinen Reisepass. Für uns als Deutsche ist das ganz normal, einen Reisepass zu haben, ne? Oder? Hier in Amerika auch, die meisten Leute haben keinen Reisepass. So, und die hatten keinen Reisepass.“ Das mag stimmen. Aber haben Seal und Heidi nicht Reisepässe und fliegen die nicht oft nach Europa? Heidi will den Fernsehzuschauern wirklich weismachen, dass Seals Zusammenführung mit seinen Pflegeeltern nicht möglich war, nur weil diese nur nach Lösung des leidigen Passproblems der Schoolings in der Oprah Winfrey Show gelingen kann? Aber die ehemaligen Pflegeeltern bleiben ohnehin aus. Es ist allein Hilary, die dann hinter den Kulissen hervor kommt und Seal umarmt. Sie erzählt, dass sie davon all die Jahre geträumt habe, aber nicht wusste, wie sie ihn erreichen sollte. Es wird viel geweint, auch Oprah Winfrey wirkt gerührt, und so endet dieser Abend. Wie aber Hilary Seal erreichen konnte, wusste sie auch schon seit einem Jahr.
Die Folge: Die Bilder des weinenden Seal gehen um die Welt, und die Verkaufszahlen seiner CD schnellen in die Höhe. Im Wesentlichen ist der ganze Abend eine Reality Show, in der nach dem Vorbild alter Fernsehshows wie „Bitte melde dich“ Ereignisse, die sich wirklich ergeben haben, termingerecht zu PR-Präsentationen noch einmal wiederholt, und überzeugend nachgestellt werden. Sie wirken dabei authentisch und sind es auch – und zugleich können sie es nicht sein, weil sie nachträglich ein zweites Mal für einen bestimmten Zweck reproduziert werden. Man sieht unwillkürlich die Brainstorming-Sitzung mit Desiree Gruber, Heidi und vielleicht auch Seal, in der besprochen wird, wie man die Bühne von Oprah Winfrey PR-trächtig nutzen könnte. Desiree fragt: „Sag mal, gibt es nichts, was wir verwenden könnten, etwas Emotionales vielleicht, etwas, das zeigt, welche tolle Familie ihr seid?“
Und Heidi schaut Seal an und meint: „Das mit deinem Geburtstagsgeschenk wär' doch was, das ist doch filmreif, pures Hollywood.“ So oder so ähnlich muss die Sache abgegangen sein.
All das ist nicht verwerflich und auch der Tatsache geschuldet, dass Heidi im Jahr 2007 bereits zwei erfolgreiche Fernsehserien am Laufen hat und weiß, was Reality-TV bedeutet. Es geht immer um Geschichten, deren Kern wahr sein muss. Geschichten um wirkliche Personen und ihre Schicksale. Das eigene Leben wird in diesem Zusammenhang zur verfügbaren Masse für die eigene Kreativität. Denn die Kunst ist es, einerseits beim Fernsehpublikum Wirkungen hervorzurufen. Andererseits aber gilt es, sein Ansehen, seine Würde zu wahren, sich keine Blöße zu geben. Denn wer das
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