Heidi und andere klassische Kindergeschichten
waren noch von den allerschönsten, welche Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte sie mit der lauten Freudenstimme in ihrem Herzen: »Ich bin gesund! Ich bin gesund! Ich muß nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie die anderen Menschen!«
Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und besser, und immer längere Gänge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte dann einen solchen Appetit mit sich, daß der Großvater seine dicken Butterschnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen sah, wie sie verschwanden. Er brachte jetzt auch immer einen großen Topf voll von der schäumenden Milch herbei und füllte Schüsselchen um Schüsselchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der die Großmama bringen sollte!
Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen
Die Großmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft noch einen Brief nach der Alp hinauf geschrieben, damit sie oben bestimmt wüßten, daß sie komme. Diesen Brief brachte am andern Tage der Peter in der Frühe mit sich, als er auf die Weide zog. Schon war der Großvater mit den Kindern aus der Hütte getreten, und auch Schwänli und Bärli standen beide draußen und schüttelten lustig ihre Köpfe in der frischen Morgenluft, während die Kinder sie streichelten und ihnen glückliche Reise wünschten zu ihrer Bergfahrt. Behaglich stand der Öhi dabei und schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine sauber glänzenden Geißen nieder. Beides mußte ihm gefallen, denn er lächelte vergnüglich.
Jetzt kam der Peter heran. Als er die Gruppe gewahr wurde, näherte er sich langsam, streckte den Brief dem Öhi entgegen, und sobald dieser ihn erfaßt hatte, sprang er scheu zurück, so als ob ihn etwas erschreckt habe, und dann guckte er schnell hinter sich, gerade als ob von hinten ihn auch noch etwas hätte erschrecken wollen; dann machte er einen Sprung und lief davon, den Berg hinauf.
»Großvater«, sagte das Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut hatte, »warum tut der Peter jetzt immer wie der große Türk, wenn der eine Rute hinter sich merkt; dann scheut er mit dem Kopf und schüttelt ihn nach allen Seiten und macht auf einmal Sprünge in die Luft hinauf.«
»Vielleicht merkt der Peter auch eine Rute hinter sich, die er verdient«, antwortete der Großvater.
Nur die erste Halde hinauf lief der Peter so in einem Zuge davon; sobald man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, kam es anders. Da stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Plötzlich tat er einen Sprung und schaute hinter sich, so erschreckt, als habe ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch hervor, aus jeder Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt auf sich losstürzen zu sehen. Je länger aber diese gespannte Erwartung dauerte, je schreckhafter wurde es dem Peter zumute, er hatte keinen ruhigen Augenblick mehr.
Nun mußte das Heidi seine Hütte aufräumen, denn die Großmama sollte doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. Klara fand dieses geschäftige Treiben Heidis in allen Ecken der Hütte herum immer so kurzweilig, daß sie mit Vorliebe dieser Tätigkeit zuschaute.
So vergingen die frühen Morgenstunden den Kindern unversehens, und schon konnte man der Ankunft der Großmama entgegensehen.
Jetzt kamen die Kinder bereit und zum Empfange gerüstet wieder heraus und setzten sich nebeneinander auf die Bank vor die Hütte, in voller Erwartung auf die kommenden Ereignisse.
Auch der Großvater trat jetzt wieder zu ihnen. Er hatte einen Gang gemacht und hatte einen großen Strauß dunkelblauer Enzianen mitgebracht, die leuchteten so schön in der hellen Morgensonne, daß die Kinder aufjauchzten bei dem Anblick. Der Großvater trug sie in die Hütte hinein. Von Zeit zu Zeit sprang das Heidi von der Bank, um auszuspähen, ob von dem Zuge der Großmama noch nichts zu entdecken sei.
Aber jetzt: Da kam es von unten herauf, gerade so, wie das Heidi es erwartet hatte. Voran stieg der Führer, dann kam das weiße Roß und die Großmama darauf, und zuletzt kam der Träger mit dem hohen Reff, denn ohne reichlich Schutzmittel zog die Großmama nun einmal nicht auf die Alp.
Näher und näher kam der Zug. Jetzt war die Höhe erreicht; die Großmama erblickte die Kinder von ihrem Pferde herunter.
»Was ist denn das? Was seh ich, Klärchen? Du sitzest nicht in deinem Sessel! Wie ist das möglich?« rief sie erschrocken aus und stieg nun
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