Heidi und andere klassische Kindergeschichten
die Sache nun als abgemacht ansah, stand er vom Tische auf und sagte: »Sie können dann morgen gehen, so weiß man, woran man ist.«
Aber die Mutter schlug einen großen Jammer auf und sagte, so schnell werde es ja nicht sein müssen, und jammerte immerfort, bis der Vater sagte: »So können sie am Montag gehen«, denn weiter hinaus wollte er es nicht verschieben, weil er dachte, es töne nun so fort, bis das Weggehen vorbei sei.
Für Stineli gab es nun Arbeit; das begriff der Rico wohl und er machte sich an den Sami und sagte ihm, er wolle sehen, ob es in Sils-Maria noch sei wie früher; und dann sollte er noch einen Sack und einen Korb von Sils herüberholen, da könnte ihm der Sami tragen helfen. So zogen sie aus. Zuerst stand Rico vor seinem ehemaligen Häuschen still und schaute die alte Haustüre an und den Hühnerstall; es war noch alles ganz gleich. Er fragte den Sami, wer drin wohne, ob die Base noch ganz allein sei. Aber die Base war schon lange fortgezogen, hinauf nach Silvaplana, und kein Mensch sah sie mehr, denn in Sils-Maria zeigte sie sich nie mehr.
In dem Häuschen wohnten Leute, von denen Rico nichts wußte. Überall, wo er mit Sami hinkam, vor den alten bekannten Häusern und aus den Scheunen starrten ihn die Leute fremd an, kein einziger kannte ihn mehr. Wie sie am Abend nach Sils hinübergingen, da schwenkte Rico gegen den Kirchhof ein; er wollte auf das Grab der Großmutter gehen, aber Sami wußte nicht recht, wo es war.
Mit Sack und Korb beladen, kehrten die beiden, als es dunkelte, zum Hause zurück. Da stand Stineli noch am Brunnen und fegte den Stalleimer zum letzten Male, und als nun der Rico neben ihm stand, sagte es strahlend vor Freuden und Fegeifer: »Ich kann es noch fast nicht glauben, Rico!«
»Aber ich«, sagte dieser so sicher, daß ihn das Stineli erstaunt ansehen mußte. »Aber weißt du, Stineli«, fügte er hinzu, »du hast es auch nicht so lange ausdenken können wie ich.«
Aber Stineli mußte sich noch ein paarmal wundern, daß der Rico so bestimmt etwas sagen konnte; das hatte es früher nicht an ihm gekannt.
Dem Rico hatte man ein Bett zurecht gemacht, oben in der Dachkammer; da schleppte er seine Sachen hinauf, denn erst morgen wollte er alles auspacken. Wie nun am folgenden Tage, am hellen, schönen Sonntag, alle um den Tisch saßen, da kam Rico und schüttete gerade vor das Urschli und den Peterli hin einen solchen Haufen von Pflaumen und Feigen, wie sie in ihrem ganzen Leben noch keinen gesehen hatten, und Feigen hatten sie auch noch gar nie gegessen; und seine Masse Würste und Fleisch und Eier stellte er mitten auf den Tisch. Und nachdem das große Erstaunen darüber ein wenig nachgelassen hatte, ging eine Schmauserei an, wie sie da noch nicht stattgefunden hatte, und bis zum späten Abend knupperten die Kinder im höchsten Vergnügen an den süßen Feigen herum.
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Achtzehntes Kapitel.
Zwei frohe Reisende.
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Am Montag mußte die Reise erst am Abend vor sich gehen, das hatte der Roßhändler dem Rico deutlich alles gesagt, so daß dieser nun perfekt seinen Weg wußte. Nachdem nun der Abschied genommen war, wanderten Rico und Stineli gegen Sils hin, und am Häuschen stand die Mutter und alle die kleinen Kinder um sie herum und schauten ihnen nach. Der Sami ging neben ihnen her und trug den Sack auf dem Kopfe, und den Korb trug Rico auf der einen und Stineli auf der anderen Seite. Stinelis Kleider hatten gerade beide angefüllt.
Bei der Kirche in Sils sagte Stineli: »Wenn uns die Großmutter noch sehen könnte! Wir wollen ihr doch noch Lebewohl sagen, nicht, Rico?« Er wollte gern und sagte Stineli, daß er schon dagewesen wäre und sie nicht gefunden hätte; aber Stineli wußte schon, wo die Großmutter lag.
Als der Postwagen heranfuhr und stillehielt, rief der Kutscher herunter: »Sind die zwei da, die an den Gardasee hinunter müssen? Ich habe schon gestern nachgefragt!«
Der Roßhändler hatte sie gut empfohlen, und nun rief der Kutscher: »Hier herauf, die anderen haben gefroren, der Wagen ist voll, ihr seid jung.«
Damit half er ihnen auf den Sitz hinter dem Bock, oben auf dem Wagen, und nahm eine dicke Roßdecke hervor, die deckte und stopfte er um die beiden, daß sie ganz eingewickelt dasaßen, und nun ging’s vorwärts.
Zum ersten Male, seit sie sich wiedergesehen hatten, saßen nun Rico und Stineli allein beieinander und konnten sich ungestört erzählen von allem, was sie in den ganzen drei Jahren erlebt hatten. Das taten sie nun auch
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