Heidi und andere klassische Kindergeschichten
recht nach Herzenslust von Anfang an, und unter dem funkelnden Sternenhimmel fuhren sie dahin und hatten keinen Schlaf die ganze Nacht vor lauter Genuß und Vergnügen. Am Morgen kamen sie auf den See, und gerade um dieselbe Stunde, wie Rico in Peschiera angekommen war, so langten auch sie an und kamen den Weg hinunter, dem See zu. Aber Rico wollte nicht, daß das Stineli den See sehe, bis es an seinem Plätzchen angekommen war. So führte er es nun zwischen den Bäumen durch, bis sie auf einmal bei der kleinen Brücke herauskamen ins Freie.
Da lag der See in der Abendsonne, und Rico und Stineli saßen an der niederen Halde hin und schauten hinüber. So wie ihn Rico geschildert hatte, so war er, aber noch viel schöner, denn solche Farben hatte Stineli noch nie gesehen. Es schaute hin und her nach den violetten Bergen und auf die goldene Flut und rief endlich voller Entzücken: »Er ist noch schöner als der Silsersee.«
Rico hatte ihn aber auch noch nie so schön gesehen als jetzt, da er mit dem Stineli dran saß.
Im stillen hatte Rico noch eine Freude; – wie konnte er den Silvio und seine Mutter überraschen! Kein Mensch hatte gedacht, daß er so bald zurücksein könnte. Bevor acht Tage um waren, erwartete sie niemand, und nun saßen sie schon da am See. Bis die Sonne unter war, blieben sie an der Halde sitzen. Rico mußte dem Stineli zeigen, wo die Mutter stand, wenn sie wusch am See und er dasaß und auf sie wartete, und er mußte erzählen, wie sie miteinander über die schmale Brücke kamen und sie ihn an der Hand hielt.
»Aber wo seid ihr dann hingegangen?« fragte Stineli. »Hast du nie das Haus gefunden, wo ihr hineingegangen seid?«
Rico verneinte es. »Wenn ich da hinaufgehe, vom See gegen die Schienenbahn hinauf, dann ist’s auf einmal, als sei ich da mit der Mutter gestanden und habe auf einem Tritt gesessen und vor uns die roten Blumen gesehen; aber es ist nichts mehr da, und den Weg hinauf kenne ich nicht, den habe ich nie gesehen.«
Endlich standen sie auf und gingen dem Garten zu; Rico trug den Sack und Stineli den Korb. Wie sie in den Garten eintraten, mußte Stineli überlaut ausrufen: »O wie schön, o die schönen Blumen!«
Das hatte den Silvio aufgeschnellt wie eine Feder. Er schrie aus Leibeskräften: »Der Rico kommt mit dem Stineli!«
Die Mutter glaubte, das Fieber habe ihn gepackt; sie warf ihre Sachen dahinten im Kasten, wo sie herumkramte, alle übereinander und kam herbeigelaufen.
In dem Augenblick aber trat der lebendige Rico unter die Tür, und vor Schrecken und Freude hätte es die gute Frau fast umgeworfen, denn bis auf diesen Augenblick hatte sie heimlich immerfort die schwersten Befürchtungen ausgestanden, das Unternehmen könnte dem Rico doch ans Leben gehen.
Hinter dem Rico kam ein Mädchen hervor mit einem so freundlichen Gesicht, daß es der Frau Menotti sogleich das Herz gewann, denn sie war eine Frau von schnellen Eindrücken. Erst mußte sie aber dem Rico beide Hände fast abschütteln vor Freude, und währenddessen ging Stineli schnell an das Bettchen heran und begrüßte den Silvio, und es legte seinen Arm um des Bübleins schmale Schultern und lachte ihm ganz freundlich ins Gesicht, so, als hätten sie sich schon lang gekannt und gern gehabt, und der Silvio packte es gleich um den Hals und zog es ganz auf sein Gesicht herunter. Dann legte das Stineli dem Silvio ein Geschenk aufs Bett, das es in die nächste Tasche gesteckt hatte, um es gleich bei der Hand zu haben. Es war ein Kunstwerk, das der Peterli von jeher allen anderen Freuden vorgezogen hatte: ein Tannzapfen, dem in jede kleine Öffnung zwischen den harten Schuppen ein dünner Draht eingesteckt war. Oben auf dem Draht war je ein komisches Figürchen von Pantoffelholz festgemacht. Alle diese Figürchen zappelten aber so lustig gegeneinander und verbeugten sich und hatten von Rötel und Kohle so feurig bemalte Gesichter, daß der Silvio nicht mehr aus dem Lachen kam.
Unterdessen hatte die Mutter von Rico das Notwendigste vernommen, daß er sicher und glücklich wieder da sei, und sie kehrte sich nun zum Stineli und begrüßte es mit aller Herzlichkeit, und Stineli sagte mehr mit seinen freundlichen Augen als mit seinem Munde, denn es konnte gar nicht italienisch und mußte sich mit seinen romanischen Worten helfen, wie es konnte. Aber es war nicht von schwerer Gemütsart und fand sich gleich zurecht, und wo es das Wort nicht fand, da beschrieb es die Sache gleich mit den Fingern und allerhand Zeichen,
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