Heidi und andere klassische Kindergeschichten
was dem Silvio unbeschreiblich kurzweilig vorkam, denn es war wie ein Spiel, wo es immer etwas zu erraten gab.
Nun ging die Frau Menotti an den Kasten, wo alles bereit lag, was man zum Essen brauchte, Teller und Tischtuch und das kalte Huhn und die Früchte und der Wein. Sowie Stineli das bemerkte, lief es augenblicklich der Frau Menotti nach und trug herzu und deckte den Tisch und war so erstaunlich flink, daß der Frau Menotti gar nichts mehr übrig blieb zu tun, als nur verwundert zuzusehen; und bevor sie nur Zeit hatte zu denken, was nun folge, hatte schon der Silvio alles auf seinem Brett, verschnitten und vorgelegt ganz ordentlich, wie es sein mußte, und die rasche Bedienung gefiel dem Silvio.
Da setzte sich Frau Menotti hin und sagte: »So habe ich es lange nicht gehabt, aber jetzt komm und sitz auch, Stineli, und iß mit uns.«
Nun aßen alle fröhlich und saßen beisammen, so als hätten sie immer zueinander gehört und müßten auch immer so zusammenbleiben. Dann fing der Rico an von der Reise zu berichten, und derweilen stand Stineli auf und räumte leise alles wieder weg in den Kasten hinein, denn es wußte nun schon, wo jedes Ding seinen Platz hatte. Dann setzte es sich ganz nahe an Silvios Bett und machte Figuren mit seinen gelenkigen Fingern, so daß davon der Schatten auf die Wand fiel, und alle Augenblicke lachte der Silvio hell auf und rief aus: »Ein Hase! Ein Tier mit Hörnern! Eine Spinne mit langen Beinen!«
So verfloß der erste Abend so schnell und vergnüglich, daß keines begreifen konnte, wo die Zeit hingekommen war, als es nun zehn Uhr schlug. Rico stand auf vom Tisch, denn er wußte, daß er nun gehen mußte; es war aber eine schwarze Wolke über sein Gesicht gekommen. Er sagte kurz: »Gute Nacht!« und ging hinaus. Aber das Stineli lief ihm nach und im Garten nahm es ihn bei der Hand und sagte: »Nun darfst du nicht traurig werden, Rico; es ist so schön hier, ich kann dir gar nicht sagen, wie es mir gefällt und wie froh ich bin, und das habe ich alles dir zu danken. Und morgen kommst du wieder und alle Tage; freut es dich nicht, Rico?«
»Ja«, sagte er und schaute das Stineli ganz schwarz an, »und alle Abende, wenn’s am schönsten ist, muß ich fort und weg und gehöre zu niemandem.«
»Ach, so mußt du nicht denken, Rico«, ermunterte ihn Stineli; »nun haben wir doch immer zueinander gehört und ich habe mich drei Jahre lang immer darauf gefreut, wenn wir wieder einmal zusammenkommen werden, und wenn es daheim manchmal so zuging, daß ich lieber nicht mehr hätte dabei sein wollen, dann dachte ich immer: Wenn ich nur einmal wieder mit dem Rico sein könnte, so wollte ich alles gern tun. Und nun ist alles so gekommen, daß ich gar keine größere Freude wüßte, und jetzt willst du dich gar nicht mit mir freuen, Rico?«
»Doch, ich will«, sagte Rico und schaute das Stineli heller an. Er gehörte doch zu jemand, Stinelis Worte hatten ihn wieder ins Gleichgewicht gebracht. Sie gaben einander noch einmal die Hand, dann ging der Rico zum Garten hinaus!
Als Stineli in die Stube zurückkam und nach der Mutter Anweisung dem Silvio »Gute Nacht« sagen wollte, da ging ein neuer Kampf an; er wollte es durchaus nicht von sich weglassen und rief ein Mal ums andere: »Das Stineli muß bei mir bleiben und immer an meinem Bette sitzen, es sagt lustige Worte und lacht mit den Augen.«
Da half nun keine Ermahnung, bis zuletzt die Mutter sagte: »So halt du jetzt das Stineli fest die ganze Nacht, daß es nicht schlafen kann, dann ist es morgen krank wie du und kann nicht aufstehen und du siehst es nicht mehr für lange Zeit.«
Da ließ Silvio endlich Stinelis Arm los, den er fest umklammert hatte, und sagte:
»Geh, schlaf, Stineli; aber komm früh am Morgen wieder!«
Das versprach Stineli; und nun zeigte Frau Menotti ihm ein sauberes Kämmerlein, das auf den Garten hinausschaute, von wo ein lieblicher Blumenduft durch das offene Fenster heraufstieg. –
Mit jedem Tage wurde das Stineli nun dem kleinen Silvio unentbehrlicher; wenn es nur zur Tür hinausging, so sah er das für ein Unglück an. Dafür war er aber auch ordentlich und gut, wenn es bei ihm war, und tat alles, was es ihn hieß, und plagte seine Mutter gar nicht mehr. Es war auch, als ob das nervöse Büblein wirklich seit Stinelis Ankunft seine großen Schmerzen verloren habe, denn noch hatte er nie gejammert, seit es an seinem Bette saß, und doch war nun schon mancher Tag hingegangen seit jenem ersten Abend, da es
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