Heidi und andere klassische Kindergeschichten
folgte lautlos dem Vetter-Götti durch die Tür nach. Nur einmal sah es noch zurück und sagte ganz leise: »Behüte Gott, Mutter!« Dann wanderte es mit seinem Bündelchen am Arm aus dem kleinen Hause, wo es daheim gewesen war. Eben als die beiden miteinander querfeldein gingen, kam von oben herunter die Trine gegangen, einen gedeckten Korb am Arm tragend. Noch stand die Nachbarin unter der Tür und schaute dem Vetter-Götti und dem Kinde nach. Die Trine trat auf sie zu und sagte: »Heute bring’ ich der kranken Frau was Rechtes, aber ein wenig spät, wir haben den Herrn Onkel zum Besuch, da wird es immer spät.« – »Und wenn Ihr auch am Morgen früh gekommen wäret, so wäret Ihr zu spät gekommen heut’, sie ist in der Nacht gestorben.« – »Es wird doch nicht sein«, rief die Trine erschrocken aus; »ach du mein Trost, was wird meine Frau sagen.« Damit kehrte die Trine um und lief stracks ihren Weg zurück.
Die Nachbarin trat in das stille Stüblein ein und machte Wiselis Mutter so zurecht, wie sie in ihrem letzten Bettlein liegen mußte.
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Viertes Kapitel.
Beim Vetter-Götti.
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Als das Wiseli hinter dem Vetter-Götti drein in das Haus hereintrat am Buchenrain, da kamen die drei Buben aus der Scheune hergestürzt, liefen hinter der Ankommenden her in die Stube herein und stellten sich mitten drin auf, und alle drei sperrten die Augen auf an das Wiseli hinan, das ganz schüchtern dastand. Aus der Küche kam die Base herein und schaute das Wiseli ebenfalls an, wie wenn sie es noch nie gesehen hätte.
Der Vetter-Götti setzte sich hinter den Tisch und sagte: »Ich meine, man könnte etwas nehmen; das Kleine hat, denk’ ich, heut’ noch wenig gehabt. Komm, sitz ab«, sagte er, zu Wiseli gewandt, das immer noch auf demselben Platze stand, sein Bündelchen in der Hand. Es gehorchte. Jetzt holte die Base Most und Käse und legte das große Schwarzbrot auf den Tisch. Der Vetter-Götti schnitt ein tüchtiges Stück ab und legte einen Brocken Käse darauf, dann schob er es vor das Kind hin: »Da, iß, Kleines, wirst wohl Hunger haben.«
»Nein, ich danke«, sagte Wiseli leise; es hätte keinen Brosamen herunterschlucken können, denn Leid und Angst und Weh schnürten es so zusammen bis an den Hals hinauf, daß es kaum atmen konnte. Die Buben standen immer da und starrten es an. »Mußt dich nicht fürchten«, sagte der Vetter-Götti ermunternd, »iß nur zu.« Aber das Wiseli saß unbeweglich und berührte sein Brot nicht. Die Base war bis jetzt auch geblieben und hatte das Kind angeschaut von oben bis unten, mit beiden Armen in die Seite gestemmt. »Wenn’s dir nicht recht ist, so kannst du’s nur bleiben lassen«, sagte sie nun, kehrte sich um und ging wieder in die Küche.
Als der Vetter-Götti sich genugsam erfrischt hatte, stand er auf und sagte: »Nimm’s in die Tasche, nachher kommt’s dir schon, daß du essen magst, mußt dich nur nicht fürchten.« Damit ging auch er in die Küche hinaus. Wiseli wollte gehorchen und die beiden Stücke in die Tasche stecken, aber diese war viel zu klein, es legte wieder alles auf den Tisch.
»Ich will dir schon helfen«, sagte Chäppi, schnappte die Stücke vom Tisch weg und wollte sie zu dem offenen Mund führen, sie fuhren aber in die Luft hinauf, denn der Hans hatte von unten herauf Chäppis Hand einen tüchtigen Puff gegeben, damit ihr die Beute entfalle und er sie erwische; in dem Augenblick aber huschte der Rudi schnell auf den Boden und haschte den Fang weg. Jetzt stürzten die beiden Größeren auf ihn, und einer fiel über den anderen hinaus, und nun ging es an ein Schlagen und Raufen und Lärmen und Heulen, daß es dem Wiseli angst und bange wurde. Jetzt machte der Vater die Küchentür wieder auf und rief in die Stube hinein: »Was ist das?« Da riefen die drei Buben am Boden alle durcheinander, und es tönte immer wieder: »Das Wiseli wollte nicht«, »das Wiseli hatte keinen« und »weil das Wiseli keins wollte«. Da rief der Vater noch lauter: »Wenn das nicht aufhört da drinnen, so will ich mit dem Lederriemen kommen!« Dann schlug er die Tür wieder zu. Das »da drinnen« hörte aber noch nicht auf, sondern sowie die Tür zu war, ging’s erst recht los, denn der Hans hatte erfunden, daß das wirksamste Mittel, den Feind zu erschrecken, sei, ihm in die Haare zu fahren, was die anderen sogleich auch begriffen, und so standen sie nun alle drei jeder mit beiden Händen an den Haaren eines anderen reißend und dazu ein fürchterliches
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