Heidi und andere klassische Kindergeschichten
nicht, was die Mutter hat.«
Das arme Kind ahnte wohl, was mit der Mutter war, aber es konnte ja nicht begreifen, daß es sie verloren hatte. Sie war ja noch da, aber sie war entschlafen für das ganze Erdenleben, sie hörte nicht mehr, wie ihr Wiseli sie rief. Die Nachbarin trat zu dem Kissen am Fenster und schaute die schlafende Frau an; dann trat sie erschrocken zurück und sagte: »Geh schnell, Wiseli, lauf und hol deinen Vetter-Götti, er soll auf der Stelle herkommen, du hast ja sonst niemand, und es muß jemand zu der Sache sehen; lauf recht, ich will warten, bis du wiederkommst.« Das Kind lief davon, aber es konnte nicht lange so weiter laufen, sein Herz war so schwer und alle seine Glieder zitterten so sehr, daß Wiseli auf einmal mitten auf dem Wege sich hinsetzen und laut weinen mußte, denn jetzt wurde es ihm immer deutlicher in seinem Herzen, daß die Mutter nicht mehr erwachen werde. Es stand dann wieder auf und lief weiter, aber zu weinen konnte es nicht mehr aufhören, denn in seinem Herzen wurde der Jammer immer größer. Am Buchenrain, wohl eine Viertelstunde von der Kirche weg, stand das Haus von dem Vetter-Götti, wo Wiseli jetzt eben ankam und weinend unter die Tür trat. Die Base stand in der Küche und fragte kurz: »Was ist mit dir?« Wiseli sagte halblaut zwischen dem Schluchzen durch, die Nachbarin habe es geschickt, daß der Vetter-Götti schnell komme zur Mutter. Die Base sah das Kind an, sie mochte denken, es sei mit der Mutter schlimm, denn weniger barsch, als sie sonst redete, sagte sie: »Ich will es ihm sagen, geh nur wieder heim, er ist jetzt nicht da.« Da kehrte Wiseli wieder um und kam schneller zurück, als es vorwärts gekommen war, denn es ging ja noch zur Mutter. Die Nachbarin stand vor der Tür, drinnen hatte sie nicht warten wollen, es war ihr nicht heimlich. Aber das Wiseli schlich hinein und setzte sich ganz nahe zur Mutter, so wie es die Nacht durch neben ihr gesessen hatte; da saß es ganz still und weinte und von Zeit zu Zeit sagte es halblaut: »Mutter!« Sie gab keine Antwort mehr. Da sagte Wiseli, sich zu ihr hinbeugend: »Gelt, Mutter, du hörst mich wohl, wenn du jetzt schon im Himmel bist, und ich dich nicht mehr hören kann.« So saß das Wiseli noch neben seiner Mutter und hielt sie fest, als schon die Mittagszeit vorüber war. Da trat der Vetter-Götti in das Stübchen, schaute sich ein wenig darin um und rief dann die Nachbarin herein. »Ihr müßt die Frau hier zurecht machen, Ihr wißt schon, wie ich meine«, sagte er, »so daß alles fertig ist zum Wegholen. Dann nehmt den Schlüssel zu Euch, daß da nichts wegkommt.« Dann wandte er sich zu Wiseli und sagte: »Wo sind deine Kleider, Kleines? Such sie zusammen und pack sie in ein Bündelchen, dann gehen wir.« – »Wohin gehen wir denn?« fragte Wiseli zaghaft. – »Heim gehen wir«, war die Antwort; »an den Buchenrain, da kannst du bei uns sein, du hast niemand mehr auf der Welt, als deinen Vetter-Götti.« Das Wiseli befiel ein lähmender Schrecken, – nach dem Buchenrain sollte es gehen und da daheim sein. Es hatte von jeher eine große Furcht vor der Base gehabt und jedesmal eine Zeitlang vor der Tür gewartet, wenn es dem Vetter-Götti etwas hatte berichten müssen, aus lauter Angst, die Base fahre es an. Dann war der älteste Sohn im Hause, der gewalttätige Chäppi, und dann kamen noch der Hans und der Rudi, die warfen allen Kindern Steine nach. Bei denen sollte es nun daheim sein.
Das Wiseli stand bleich und unbeweglich vor Schrecken da. »Du mußt dich nicht fürchten, Kleines«, sagte der Vetter-Götti freundlich; »es sind wohl mehr Leute bei uns im Hause als da, aber das ist desto lustiger für dich.« Wiseli legte still seine Sachen zusammen in ein Tuch und knüpfte je zwei Zipfel davon kreuzweis ineinander; dann band es sein Tüchlein um den Kopf und stand fertig da.
»So«, sagte der Vetter, »nun gehen wir«, und schritt der Tür zu. Auf einmal schluchzte Wiseli laut auf: »Dann muß ja die Mutter ganz allein sein.«
Es war wieder zu ihr hingelaufen und hielt sie fest.
Der Vetter-Götti stand ein wenig verblüfft da; er wußte nicht recht, wie er dem Kinde erklären sollte, wie es mit seiner Mutter sei, wenn es das nicht von selbst begriff, denn Erklären war nicht seine Sache, das hatte er nie probiert; er sagte also: »Komm jetzt, komm! Ein Kleines, wie du eins bist, muß folgen; komm und mach nur kein Geschrei, das hilft gar nichts.« Wiseli würgte sein Schluchzen hinunter und
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