Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Chäppi, mürbe gemacht. Nun ließ Otto los. »Jetzt hast du’s gespürt«, sagte er; »wenn du dem Wiseli noch einmal etwas zuleide tust, so packe ich dich so, daß du noch einen Schrecken hast davon, wenn du siebzig Jahr alt bist. Leb wohl, Wiseli.« Damit kehrte sich Otto um und ging mit seinem Zorn nach Hause.
Hier suchte er gleich seine Mutter auf und schüttete seine ganze Empörung vor ihr aus, daß das Wiseli eine solche Behandlung erdulden müsse. Er war auch ganz entschlossen, auf der Stelle zum Herrn Pfarrer zu gehen und den Vetter-Götti und seine ganze Familie anzuklagen, daß man ihnen das Wiseli entreiße. Die Mutter hörte ruhig zu, bis Otto sich ein wenig abgekühlt hatte, dann sagte sie:
»Sieh, lieber Junge, das würde gar nichts nützen, das Kind würde man dem Vetter-Götti nicht wegnehmen, nur ihn reizen, wenn er so etwas hörte. Er meint es selbst nicht böse mit dem Kinde, und es ist kein genügender Grund da, ihm Wiseli ganz wegzunehmen. Ich weiß wohl, daß das arme Kind jetzt ein hartes Brot ißt, ich habe es auch gar nicht vergessen, ich schaue immer danach aus, ob mir der liebe Gott nicht einen Weg auftue, da dem Kinde in einer gründlichen Weise könnte geholfen werden; die Sache liegt mir auch am Herzen, das kannst du glauben, Otto. Wenn du unterdessen das Wiseli schützen und den rohen Chäppi ein wenig zähmen kannst, ohne selbst dabei roh zu werden, so bin ich ganz damit einverstanden.«
Otto beruhigte sich am besten im Gedanken, daß die Mutter doch auch immerfort nach einem anderen Wege für das Wiseli ausschaute. Er selber dachte alle möglichen Rettungswege aus, aber alle führten in die Luft hinauf und hatten keinen Boden, und er sah ein, daß das Wiseli da nicht darauf wandeln konnte, und als er dann zu Weihnachten seine Wünsche aufschreiben durfte, da schrieb er ganz desperat mit ungeheuren Buchstaben, so als müßte man sie vom Himmel herunter lesen können, auf sein Papier: »Ich wünsche, daß das Christkind das Wiseli befreie.«
Nun war der kalte Januar wieder da und der Schlittweg war so prächtig glatt und fest, daß die Kinder gar nicht genug bekommen konnten, die herrliche Bahn zu benutzen. Es kam auch eben eine helle Mondnacht nach der anderen, und Otto hatte auf einmal den Einfall, am allerschönsten müßte das Schlittenfahren im Mondschein sein, die ganze Gesellschaft sollte sich am Abend um sieben Uhr zusammenfinden und die Mondscheinfahrten ausführen, denn es war der Tag des Vollmonds, da mußte es prächtig werden. Mit Jubel wurde der Vorschlag angenommen und die Schlittbahngenossen trennten sich gegen fünf Uhr wie gewöhnlich, da die Nacht einbrach, um sich um sieben Uhr wieder zusammenzufinden. Weniger Anklang fand der Vorschlag bei Ottos Mutter, als er ihr mitgeteilt wurde, und sie wurde gar nicht von der Begeisterung hingerissen, mit welcher die Kinder beide auf einmal und in den lautesten Tönen ihr das Wundervolle dieser Unternehmung schilderten. Sie stellte ihnen die Kälte des späten Abends vor, die Unsicherheit der Fahrten bei dem ungewissen Licht und alle Gefahren, die besonders das Miezchen bedrohen könnten. Aber die Einwendungen entflammten immer mehr den brennenden Wunsch, und Miezchen flehte, als hinge seine einzige Lebensfreude an dieser Schlittenfahrt; Otto versprach auch hoch und teuer, er würde dem Miezchen nichts geschehen lassen, sondern immer in seiner nächsten Nähe bleiben. Endlich willigte die Mutter ein. Mit großem Jubel und wohlverpackt zogen die Kinder ein paar Stunden nachher in die helle Nacht hinaus. Es ging alles ganz nach Wunsch, die Schlittbahn war unvergleichlich, und das Geheimnisvolle der dunkeln Stellen, wo der Mondschein nicht hinfiel, erhöhte den Reiz der Unternehmung. Eine Menge Kinder hatte sich eingefunden, alle waren in der fröhlichsten Stimmung. Otto ließ sie alle vorausfahren, dann kam er und zuletzt mußte das Miezchen kommen, damit ihm keiner in den Rücken fahren konnte; so hatte es Otto eingerichtet, er konnte dabei auch immer von Zeit zu Zeit mit einem schnellen Blick gewahren, ob Miezchen richtig nachkomme. Als nun alles so herrlich vonstatten ging, fiel einem der Buben ein, nun müßte einmal der ganze Zug »anhängen«, nämlich ein Schlitten an den anderen gebunden werden und so herunterfahren, das müßte im Mondenschein ein ganz besonderes Juxstück abgeben. Unter großem Lärm und allgemeiner Zustimmung ging man gleich ans Werk. Für Miezchen fand Otto die Fahrt doch ein wenig gefährlich,
Weitere Kostenlose Bücher